Die Tochter der Konkubine
Sie schloss die Augen, um die Schwärze von dieser Erscheinung zu befreien, und als sie wieder hinsah, blickte sie in das freundliche Gesicht der Göttin Tien-Hau.
In den vierundzwanzig Stunden seit dem Taifun hatte Toby kaum ein Auge zugetan. Er stand an der Ruderpinne des Kutters, den er beschlagnahmt hatte, sobald er dienstfrei hatte, und konnte die Dächer von Po-Loks Gut sehen. Der Bauer und seine Familie hatten sich Augenblicke, bevor das Unwetter einsetzte, noch in die Sicherheit
des Hauses bringen können, aber Kam-Yang sagte, dass Sing und Rubin nicht mehr rechtzeitig heimgekommen waren.
Das Boot glitt durch Landschaften der Zerstörung, deren Anblick ihn mit Angst um Sing erfüllte. Die dichte, feuchte Hitze, die dem Taifun vorausgegangen war, hatte sich in einem dampfigen Nebel über die verwüstete Landschaft gelegt. Insektenwolken sammelten sich in dem erstickenden Gestank, der gefangen über dem Talboden lag. Auf den Dächern, die aus den Fluten herausragten, konnte er kein Lebenszeichen entdecken. Durch seinen Feldstecher konnte er sehen, dass die Bäume immer noch voller Vögel waren, die sich die Äste mit faulenden Viehkadavern teilten.
Er suchte treibende Planken und kaputte Zaunteile ab. Ganze Holzgebäude trieben vorbei, und mit Wasser vollgesogene Ballen Viehfutter hatten Inseln für Enten und kleinere Haustiere gebildet. Überlebende waren weder zu sehen noch zu hören. Als er nach Sing rief, hallte ihr Name nur in der unheimlichen Stille wider.
Po-Loks Gut lag mehrere Meilen vom Dorf Tai-Po entfernt, wo die Wasserwand den Kanal hinaufgerollt war und dem Flussverlauf bis zum Nachbardorf gefolgt war, ehe sich ihre Kraft erschöpft hatte. Hunderte von Dschunken, Sampans und Schiffe waren bis zu zwei Kilometer landeinwärts gespült worden. Er hatte hoch oben auf einem Hügel eine Dschunke gesehen, in deren Netzen noch immer faulende Fische hingen. Es hieß, mehr als zehntausend Menschen seien ertrunken.
Während er die verlassenen Gebäude absuchte, kämpfte Toby gegen die Verzweiflung an. Die stummen Bäume standen noch immer zur Hälfte unter Wasser. Die Flut hatte im Tal gewütet, war über die Reisterrassen hereingebrochen, ehe sie von den Hügeln ringsum aufgehalten wurde.
Er umfuhr das verlassene Mühlenhaus und rief weiter nach Sing - ohne Antwort. Er suchte die zerstörten Hänge mit dem Feldstecher ab, hoffte auf ein Zeichen, dass sie sich nach oben geflüchtet hatte. Er lehnte sich an die Ruderpinne und steuerte den Kutter in großem Bogen auf den nächsten trockenen Grund zu.
Er durchforstete die unteren Hänge eine Stunde lang, rief ihren Namen, bahnte sich den Weg über die Fluten von trocknendem Schlamm und Schiefer. Die gesamte Talseite schien sich verschoben zu haben. Die Eichengruppe, die dem Tempel von Tien-Tau Schutz geboten hatte, war verschwunden, und es waren nur aufgebrochener Grund, zerfranste Stümpfe und uralte Wurzeln zurückgeblieben, die nun wie Saurierknochen herausragten. Seine letzte Hoffnung war, dass sie sich irgendwie in höhere Regionen gerettet und dort Unterschlupf gefunden hatte …
Nachdem Toby Sing halb im Schlamm versunken auf dem Boden des Tempels entdeckt hatte, dachte er einen schrecklichen Augenblick lang, sie sei tot. Nirgends eine Spur von Blut, doch der Schlamm hatte ihren Körper wie ein Grab für sich reklamiert, hatte sich um sie gelegt, bis nur noch ihr Gesicht und ihre Hände über seiner seidenen Oberfläche sichtbar waren.
Sie war bewusstlos, doch konnte er eindeutig einen - wenngleich trägen - Puls fühlen. Panisch schaufelte er mit den Händen den verdichteten Schlamm beiseite und konnte schließlich erkennen, dass sie über und über mit Blutergüssen bedeckt war und ein Bein gebrochen hatte. Aus abgebrochenen Ästen baute er eine behelfsmäßige Schiene, und band sie mit Stoffstreifen, die er sich vom Hemd gerissen hatte, fest, während er sanft auf sie einsprach, ohne zu wissen, ob sie ihn hören konnte. Sie fühlte sich eiskalt an. Er verfluchte sich dafür, keine Decken mitgenommen zu haben.
Wie durch Zauberhand riss die Wolkendecke über dem Tal auf, und die Sonne beschien die Flutmassen und verwüsteten Hänge. Ein einziger Strahl puren Lichts durchdrang das zerstörte Dach, beleuchtete Tien-Haus Figur und, flüchtige Sekunden lang, das an die Wand gespannte Fell des Letzten Tigers. Er griff danach und entdeckte, dass es auf wundersame Weise trocken geblieben war. Es war gut gegerbt und ziemlich weich. Als er Sing darin
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