Die Tochter der Konkubine
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Ein Klopfen an der Tür brach den Zauber. So schnell wie ein Schatten bewegte Ah-Keung sich zum Fenster, als Angus den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Oh, Verzeihung, ich dachte, Sie wären allein.«
»Schon gut, Angus. Wir sind gerade fertig geworden. Ich bin jeden Augenblick bei Ihnen.« Angus zögerte, dann zog er sich zurück.
Ah-Keung blieb am Fenster stehen und blickte auf den bevölkerten Damm hinunter. Plötzlich wirkte er harmlos, seine ungelenke Gestalt gebeugt, das arrogante Auftreten war verschwunden. Beim Anblick seines knochigen Gesichts, des borstigen Haars, das knapp über dem großen Schädel geschoren war, verspürte sie einen
Anflug von Mitleid. In diesem Augenblick war er nicht mehr der Energische, sondern nur noch der unerwünschte Junge mit dem verdrehten Fuß, der eine Möglichkeit gefunden hatte, zu überleben und seinen Peinigern entgegenzutreten.
»Kannst du dir nicht ein Herz fassen und einem gebrochenen Jungen seine Fehler verzeihen?«, fragte er demütig.
»Ich hege keinen Groll gegen dich«, erwiderte sie. »Aber wir haben verschiedene Wege eingeschlagen. Belassen wir es dabei.«
»Ich habe für meinen Stolz gezahlt. Der Taipan benötigt meine Dienste nicht mehr«, sagte er tonlos, »während du Glück und viele Freunde gefunden hast. Du wirst von dem weißhaarigen Teufel mit den hübschen Kinderaugen beschützt. Vielleicht bekommt ihr eines Tages sogar Kinder.«
Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich muss gezwungenermaßen hinter den Mauern von Ling Dam wohnen, der Stadt der Verdammten. Dort kannst du mich finden.« Er legte einen zusammengefalteten Zettel vor sie auf den Schreibtisch.
»Lebe wohl, Ah-Keung«, sagte Sing ruhig. »Es wird Zeit, dass du gehst.«
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte er schlicht. »Das, weshalb ich herkam, habe ich getan. Aber ich glaube, du wirst mich wiedersehen, Kleiner Stern.« Die Tür schloss sich, und er war verschwunden.
Draußen, im grellen Sonnenlicht, blieb Ah-Keung stehen und rollte mehrere glänzende Haare von Sings Kopf eng zusammen. Sie leuchteten kupfern in der Sonne. Er faltete sie in ein viereckiges rotes Tuch und steckte es sich sorgfältig in die Tasche seiner Lederjacke.
Hinter den gut bewachten Toren der Villa Formosa überlegte Sing, was sie tun sollte. Sie hatte immer gewusst, dass der Kranich dem Tiger eines Tages gegenübertreten müsste, und sie fürchtete sich nicht. Doch hatte sie nie bedacht, dass noch ein Leben außer ihrem in Gefahr sein könnte. Nun ging ihr die leise Drohung in
Ah-Keungs Worten nicht aus dem Kopf: »Du hast viele Freunde. Vielleicht bekommt ihr eines Tages sogar Kinder.«
Auch die Worte Meister Tos kamen ihr wieder in den Sinn:
Der Kranich war damit zufrieden, in Ruhe im Marschland zu leben, in den Binsen sein Nest zu bauen und seine Flügel auf der Sandbank zu trocknen. Doch der Tiger kam, den Kranich im Schilf zu suchen, und versuchte, ihn zu zerstören. Er war bereit und besiegte seinen Angreifer durch die Kraft seiner Schwingen, den Stahl seiner Füße und die Klinge seines Schnabels. So wird es immer sein. Der Kranich muss ständig auf der Hut sein. Die Zeit war gekommen, dass Sing dem Schicksal begegnete, auf das sie sich auf dem Felsen großer Stärke vorbereitet hatte.
Sie schickte Toby eine Nachricht, in der sie ihn bat, in die Villa Formosa zu kommen, sobald er abkömmlich war. Sie trafen sich im Pavillon freudiger Momente, und sie versuchte die Worte zu finden, die sie ihm sagen musste. »Ich muss dir etwas sagen. Ich bitte dich, mir mit dem Herzen zuzuhören und das, was ich tun muss, nicht in Frage zu stellen.«
Sie nahm seine Hand und hielt sie sich an die Wange. »Die Götter hätten niemand Sanfteren oder Kräftigeren wählen können als dich. Aber ich muss nun einen Weg gehen, dem niemand folgen kann, hin zu einem Ort, den ich allein aufsuchen muss. Meine einzige Hoffnung besteht darin, dass ich vielleicht bald zu dir zurückkehre.«
Seine Arme schlossen sich um sie. »Dann heirate mich, Sing … sei meine Frau und lass uns diesen Weg gemeinsam gehen, so wie Ben und Li-Xia es einst taten.«
»Das ist nicht möglich. Jetzt ist nicht die Zeit für Glück.« Sie antwortete, ohne zu zögern, und er wusste, das war ihr letztes Wort. »Wenn du mir helfen möchtest, dann sprich darüber mit Miss Bramble und Angus. Danke ihnen für ihre Freundlichkeiten mir gegenüber, aber sage ihnen, dass ich eine Reise abschließen muss, die vor langer Zeit begonnen hat.«
Sie fuhr ihm
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