Die Tochter der Konkubine
durch sein goldenes Haar. »Es gibt Dinge aus meiner
Vergangenheit, da kannst du nichts ausrichten. Ich liebe dich zu sehr, um darüber zu sprechen, du musst mir also vertrauen.« Sie nahm einen Umschlag von dem Jadeittisch, der mit dem Siegel des Doppeldrachens versehen war. »Ich werde einhundert Tage lang fort sein. Wenn ich nach dieser Zeit nicht wiederkehre, musst du Angus diesen Brief geben. Er wird wissen, was zu tun ist.«
35. KAPITEL
Di-Muk
Keine Straße führte nach Po-Lin, dem Tempel »Kostbarer Lotus«. Vor tausend Jahren auf der Insel Lantau erbaut, war er einer der größten buddhistischen Tempel Asiens. Über die Jahrhunderte hatte man seine Pracht noch vergrößert und ihn von einem bescheidenen Bergschrein mit einer Begräbnisstätte zu einem Kloster ausgebaut, das über tausend Mönche beherbergte. Die auf einem dunstverhangenen Gipfel gelegene Pagode der weißen Perle wurde selbst von den Mönchen Po-Lins selten besucht. Nur der Abt und seine erwählten Priester durften ihre verbotenen Gemächer betreten.
Sing hatte zwei Stunden gebraucht, um mit der Fähre nach Lantau zu gelangen und die tausend Stufen zu dem Kloster hinaufzusteigen. Eine Nonne kam ihr entgegen, eine kleine, vogelartige Frau in einem verblichenen Gewand, das einst die leuchtende Farbe frischen Safrans gehabt hatte. Die kleine Nonne verbeugte sich, um sie willkommen zu heißen, als würde Sing erwartet, und zeigte ihr dann ein Vorzimmer außerhalb des Haupttempels.
Sing wartete allein, bis Abt Xoom-Sai den Raum betrat, gestützt von zwei stämmigen Mönchen, die ihn auf einer Steinbank Platz nehmen ließen. Der Kopf war geschoren, sein Körper in ein Gewand von tiefstem Purpurrot gehüllt. Er blickte Sing mit neugierigen und gütigen Augen und einem Lächeln des Willkommens auf einem zeitlosen Gesicht an.
Sing machte einen Kotau vor ihm und legte ihm den Bambusbehälter, in dem die acht wertvollen Papierrollen steckten, vor die Füße. Das Gesicht des Abts lag im Schatten, als er den Brief von
Meister To entfaltete, sich das Siegel genau besah und mit den Fingerspitzen über das gekerbte Wachs fuhr.
Als er schließlich sprach, waren seine Worte allein für sie bestimmt, als sei sie in diesem Augenblick wieder ein Kind, befinde sich unter dem Birnbaum und lausche der geduldigen Stimme Meister Tos. »Erhebe dich, Roter Lotus. Du bist eine wahre Schülerin des Weißen Kranichs. Dein Meister To-Tze war mir wohlbekannt. Er gibt seine Fähigkeiten mit großem Vertrauen an dich weiter. In diesem Brief steht, dass du die Einzige warst, der man das ›Die Edlen Acht‹ anvertrauen konnte; dass du mich finden würdest, wenn die Zeit gekommen sei, dass Kranich und Tiger einander gegenübertreten.«
Einen Augenblick schwieg er und hielt die Augen geschlossen, als befinde er sich in Trance. »Du musst dich gut vorbereiten. Dein Feind ist sehr zornig und sehr stark. Seine Kraft liegt im Hass, und sein Zorn ist seine Schwäche.«
Er sprach, als sehe er den Ablauf vor sich. »Zuerst wird er dir yan-jing-shi schicken, die Schlange … Im Herzen ist er ein Feigling. Nur, wenn du dich behauptest, wird der Tiger sich zeigen.«
»Ich bitte darum, hier wohnen zu dürfen, während ich mich vorbereite, großer Meister.«
»Das kannst du gern, Roter Lotus. Du wirst an einem Ort schlafen, der das Schlachtfeld des Geistes ist. Dein Bett aus Stein wird dir unbequem sein, aber du wirst Ruhe finden von der neunten Stunde an, bis du von der Stimme Buddhas geweckt wirst. Der Tag beginnt zur dritten Stunde, wenn der Mond seinen Zenit erreicht hat, wenn Körper, Geist und Seele für alle Dinge offen sind. Du wirst allein meditieren, nichts essen außer der Nahrung, die dir die Nonne Lu zubereitet, und nichts trinken außer Quellwasser. Du wirst allein vor der Perlpagode trainieren. Wende dich an den Geist des Kranichs und bereite dich auf einen Kampf mit yan-jing-shi vor, die in der Nacht kommen wird.«
Es begann stets mit demselben Traum. Vom Fels Großer Stärke streiften Wolken über den See. Boote, die hoch mit Schilf beladen waren, segelten friedlich dahin. Sampans lagen reglos wie Grashüpfer im Mittsommer auf dem Wasser. Weiter oben auf dem Hang sang die Brise ihr durch den Bambus ein Lied wie von Himmelsharfen. Hier war ihre Seele zu Hause. Sing war außer sich vor Freude.
Unvermittelt verdunkelte sich die blasse Bergsilhouette. Die Pfingstrosenbäume schlossen ihre Blüten, die wie infolge eines großen Feuers welkten und herabfielen. Die
Weitere Kostenlose Bücher