Die Tochter der Konkubine
einer Kobra in ihren Verstand eindrang. Sing wusste, sie befand sich in ernster Gefahr. Sie hörte Meister Tos Worte: Nur du kannst die Verbindung trennen. Du musst standhalten. Sich dem Weg des Tigers anzuschließen würde den Untergang bedeuten. Sie bot alles auf, was sie gelernt hatte, um gegen die Furcht anzukämpfen, die sie in das klebrige Gespinst der Vogelspinne zu hüllen drohte, die sich an ihrem Verstand sättigen wollte, wie sie sich an den schillernden Farben des Kolibris zu schaffen gemacht hatte.
Nahrung war unnötig geworden, und wenn der Verstand ihr sagte, dass sie versuchen müsse zu essen, dann brachte sie nichts hinunter. Ihr Körper verlor jegliche Energie. Innerlich erstarrte sie zu Eis, aber ihre Haut war schweißnass. Sie zog alles, was sie finden konnte, über sich und lag dann am ganzen Körper zitternd da, wobei jeder Nerv und Muskel, jede verhärtete Sehne von ihren geschwächten Gliedmaßen abgetrennt zu sein schienen. Sie konnte nicht aufstehen, fühlte, wie die kriechende Wärme ihres Urins erkaltete. Schließlich spürte sie, wie ihre Verbindung mit dem Felsen Großer Stärke wie eine einzelne Seidenfaser zerriss; und sie fiel, lautlos schreiend, in den Mahlstrom, den Ah-Keung geschaffen hatte.
Die Älteren trugen die bewusstlose Sing zur Pagode der Weißen Perle, wo sie gegen die Mächte der Dunkelheit kämpfen sollte. Der Abt Xoom-Sai sah zu, wie sie die schmalen Stufen hinauf zur achten und höchsten Kammer getragen und in der Mitte der runden Fläche auf einen alten Bilderteppich mit mystischen Zeichen gelegt wurde. Die untergehende Sonne warf orangefarbenes Licht durch ein kleines rautenförmiges Fenster.
Von der hohen, gewölbten Decke hingen Gebetsgewänder wie Flaggen herunter. Aus einer Ecke, die vom Abendhimmel so hell wie Bronze beleuchtet wurde, blickte eine Statue des meditierenden Buddha auf sie herab. Auf dem kleinen Altar davor steckten in einem eisernen Räuchergefäß lauter abgebrannte Räucherstäbchen. Der Abt ersetzte sie durch acht frische Stäbchen, zündete sie nacheinander an und reichte seinen getreuen Älteren dann dicke Kerzen.
»Sie muss ständig von Licht umgeben sein, die Flammen durch unsere Gebete entzündet werden. Das Böse verweilt in der Dunkelheit verborgener Wälder.« Abt Xoom-Sai fing an, seine Hände nahe über Sings zitterndem Körper zu bewegen. Durch halb geschlossene Augen beschwor er ihre Aura: Die Farben ihrer Lebenskraft hatten sich verdüstert, ein feindseliger Schatten lastete darauf. »Die hier wurde von der dunkelsten aller Mächte verflucht. Sie ist erfüllt von einem großen Hass. Einem mächtigen Bösen.« Seine Hände hielten über ihrer Stirn inne, und seine Finger fingen zu zittern an. »Sie besitzt große Stärke, doch das tut ihr Feind auch.«
Seine tiefe Stimme schien den Raum mit schwachen Echos zu erfüllen, sein purpurfarbenes Gewand im letzten Tageslicht zu leuchten. Eine Hand, die durch die Vibrationen, die sie entdeckt hatte, noch immer zitterte, bewegte er zur Kehle und griff nach dem Jadeamulett um ihren Hals. Die Finger des Abts schlossen sich darum, bis seine Faust heftig bebte und er sie plötzlich losließ, als hätte er sich verbrannt. Vorsichtig öffnete er den Verschluss der Kette und hielt sie hoch, damit die anderen sie sehen konnten.
»Hier begann das Böse. Sie wurde als Tür zu ihrer Seele eingesetzt.« Er nahm das Jadeamulett zum Altar und legte es zu Füßen
des Buddhas. »Schickt nach dem Hakenmeister … er möge unverzüglich kommen!«
Dreißig Tage und Nächte blieb Sing in der Perlenpagode, ehe sie sich ihrer Umgebung bewusst wurde. Es kam ihr vor, als hätte sie nie etwas anderes als die Schwärze der Grube gekannt, nie etwas gefühlt als ihre schleimigen Wände oder etwas gesehen als die Augen der Kobra. In der Dunkelheit hallte Ah-Keungs spöttisches Gelächter wider: »Erzähl mir, Roter Lotus, wo sind die Fähigkeiten des Weißen Kranichs jetzt?«
Dann ließ die Schwärze langsam nach, und die Augen der Schlange trübten sich. Über ihr erschien ein schmaler Strich blauen Lichts, das allmählich zunahm, bis es sie wie eine helle Blase puren Lichts umgab. Sie konnte spüren, wie es die feuchte Kühle ihres Schweißes trocknete. Der sommerblaue Fleck wurde umrahmt von einem kuppelförmigen Fenster. Ein einziger Wolkenbausch schwebte darin, leicht und weich wie eine hochgepustete Feder.
Sing spürte den heißen Fluss der Tränen und lag eine lange Zeit da und betrachtete nur die
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