Die Tochter der Konkubine
kleine Wolke. Sie schien größer zu werden, eine eigene Bewegung zu haben, immer näher zu kommen, bis sie sah, dass es sich um einen großen weißen Vogel handelte, dessen Flügel sich mit traumhafter Langsamkeit hoben und senkten. Mit majestätischer Anmut und grenzenloser Freiheit schwang er sich himmelaufwärts und stieß dann wieder herab.
Sie vernahm Meister Tos Stimme, die sie rief, und versuchte aufzustehen. Zu ihrer Freude merkte sie, dass sie federleicht war. Der mit der Dunkelheit gekommene Schmerz war verschwunden. Die Nonne, die neben ihr saß und ihr geduldig eine faul riechende Mixtur in den Mund löffelte, sah, dass die Lider ihrer Augen flatterten und sie sie dann aufschlug. Die Kräutermedizin roch und schmeckte widerlich. Die Nonne wischte sie ihr vom Kinn und stellte die Schüssel beiseite. Selbst das kleinste von ihr verursachte Rascheln fand Sing nach dem Tollhaus der Grube tröstlich.
Der Abt beugte sich über Sing und sprach leise zu ihr. Seine
braunen Arme und Schultern waren nackt. »Der schlimmste Teil des Kampfes ist vorbei, Roter Lotus. Bald wirst du stark genug sein, um dich zu verteidigen. Und der hier wird dir zeigen, wie.« Der Abt trat beiseite.
Das Gesicht des Mannes, der sich über sie beugte, war so von Falten überzogen, dass nur seine glänzenden und forschend blickenden Augen Leben zeigten. »Ich bin der Hakenmeister«, flüsterte er mit dünner Stimme. »Du bist zum Licht zurückgekehrt. Das Amulett ist wieder rein. Wenn du bereit bist, deinem Peiniger entgegenzutreten, erwartet es dich am Fuße der Gottheit in meiner Hütte am Meer.«
Auf dem Gipfel über dem Tempel von Po-Lin stand Sing, hob ihr Gesicht zum Himmel und setzte die Kraft ihres Verstandes ein, um sich mit einem goldenen Licht zu umgeben. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief die gute Luft ein, die vom Meer heranwehte, und bemerkte zufrieden, dass ihr Blut ungehindert durch ihren Körper floss. Verloren für alles außer für die sachten Klänge des Windes, der die spärlichen Grasbüschel bewegte, zwang sie den Sauerstoff kraft ihres Willens durch ihre Lungen, führte ihn entlang ihres Rückgrats in ihren Unterbauch, um ihr Innerstes zu kräftigen, dann wieder zurück, um den Kreislauf, der ihr Chi nähren würde, durch allmähliches Ausatmen zu vervollständigen.
So ganz allein dort zu stehen, auf dem höchsten Punkt aller vor Hongkong gelegenen Inseln, die Nachtbrise auf ihren Gliedmaßen und in ihrem Haar, verlieh ihrer Seele die benötigte Freiheit. Sie hatte seit dem Morgengrauen dort meditiert, wie sie das seit einem Monat täglich getan hatte, seitdem sie aus der Grube gestiegen war. Die sanften Bewegungen von Pa-Tuan-Tsin, der Acht Edlen Brokatübungen, stellten die Gelenkigkeit ihrer Glieder wieder her, brachten in jeden Muskel Kraft zurück und erneuerten ihren Blutstrom. Wenn sie nachts an Ah-Keung denken musste, umgab sie sein Gesicht mit einem Ring aus Feuer und beobachtete, wie es durch die Flammen seines eigenen Hasses vernichtet wurde.
Mit jedem Tag spürte Sing, dass sich ihre Fähigkeiten in nie gekannte Höhen steigerten. Sie war bereit.
Der Hakenmeister, der schon länger auf Lantau lebte als jeder andere, stellte aus tierischen Knochen und Klauen, Widerhaken von Muscheln und Vogelschnäbeln, die er an versteinerte Treibholzstückchen band, Fischerhaken her. In jeden schnitzte er ein altes Schriftzeichen, dem, so behauptete er, kein Fisch widerstehen könne. Die Fischer hielten seine Haken für verzaubert, denn sie hatten damit immer die schönsten Fische gefangen. Und wenn ein Sturm über die Inseln fegte, kam der Sampan, der seine Haken an Bord hatte, grundsätzlich wieder wohlbehalten ans Ufer zurück. Seine Zauberkraft war so groß, dass manche anfingen, seine Haken als Talisman um den Hals zu tragen, um das Glück anzuziehen und Dämonen fernzuhalten. Der Hakenmacher verlangte nichts für seine Arbeit, nahm als Bezahlung nur Fisch und andere Lebensmittel an.
Beim Schiffsvolk der Silvermine Bay war sein Rat zu jedem Problem und sein Segen bei jeder Geburt, jeder Vermählung und jedem Todesfall gefragt. Seine größten Fähigkeiten bewies der Hakenmacher jedoch in der Abwehr böser Geister, der Dämonenjagd. In der weißen Magie war er derart beschlagen, dass selbst der Abt von Po-Lin ihn in verzweifelten Fällen um Hilfe bat.
Aus dem Schornstein der Hütte des Hakenmeisters wehte der Rauch des Holzfeuers in der Brise, als Sing sich ihr näherte. Sie war ohne anzuhalten den
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