Die Tochter der Konkubine
verschwunden. Sein frisch rasiertes Kinn, blass und glatt, zeigte den Anflug seines chinesischen Erbes offenkundiger. Eine dünne weiße Narbe verlief über seinem Kinn. Wenn er lächelte, sah er viel jünger aus, als sie ihn geschätzt hatte. Kein Barbar mehr , sagte sie ihrem Herzen mit einem heimlichen Lächeln.
»Guten Morgen, kleine Schwester. Kung Hai Fat Choy .« Hinter seinem Rücken holte er einen Blumenstrauß mit violetten Blüten hervor. »Kornische Veilchen, meine liebsten Wildblumen.« Liu nahm sie mit einer Verbeugung entgegen und bemerkte ihren erlesenen Duft. »Guten Morgen, Herr. Kung Hai Fat Choy .«
»Verzeih mir, dass ich sie zu diesem besonderen Anlass gepflückt habe.« Er lachte. »Aber es gibt davon noch mehr als genug, und es werden andere wachsen und sie ersetzen.« Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen. Er freute sich, dass er ihr Gesicht so zum Erstrahlen gebracht hatte.
»Im himmlischen Garten gibt es viele Blumen«, hauchte sie, »aber keine riechen wie Engelsatem außer diesen hier.«
Ben lächelte. »Sie erinnern mich an meine Jugend. Einmal an den Veilchen geschnuppert, und schon stehe ich nach dem Regen neben einer Hecke aus Haselnuss und Wildrosen und beobachte, wie die Schatten einander über das Moor jagen.«
Er zog ihr einen Stuhl heraus und bestand darauf, dass sie Platz nahm, bevor er es tat. »Die persönliche Assistentin des Taipans verbeugt sich nicht und steht auch nicht, während er sitzt.« In seiner Stimme schwang ein heiterer Humor mit, und Li entspannte sich. »Der heutige Tag ist nicht für Geschäftliches gedacht, und auch nicht für Herren und Assistentinnen. Wir widmen ihn der Entdeckung und Vorbereitung der Zukunft. Die anderen dürfen gern ihre Familien um sich versammeln und um Reichtum beten, wir aber tun nichts, was wir nicht tun möchten.«
Er fuhr sich über das glatte Kinn. »Ich habe beschlossen, im neuen Jahr einige Änderungen vorzunehmen. Es ist eine Zeit des Glücks und der großen Möglichkeiten. Ein Jahr für kühne Entscheidungen und noch kühnere Taten.
Zunächst muss ich dich fragen, ob du einen eigenen Gott hast, den du an diesem besonderen Tag anrufen kannst. Wenn du zum Tempel gehen musst, werde ich auf dich warten.«
Li schüttelte den Kopf. »Ich habe die Götter einmal um Hilfe gebeten, aber ich war zu klein, als dass sie mich gesehen oder gehört hätten. Sie waren so zahlreich, dass ich nicht wusste, vor welchem ich mich verbeugen sollte, folglich verbeugte ich mich vor allen. Vielleicht war es meine Schuld, aber mein Gebet wurde von keinem von ihnen erhört. Jetzt bin ich zwar größer, aber ich weiß immer noch nicht, an welchen ich mich wenden sollte. In besonders wichtigen Angelegenheiten vertraue ich meinem Herzen.«
Ihre Antwort schien ihm zu gefallen. »Ich habe zwei Götter«, sagte er leichthin, »einen habe ich mir selbst erschaffen, der andere stammt vom alten China und meiner Mutter. Am ersten Tag des neuen Jahres bete ich zu beiden. Hier wohnen sie auch.« Er langte sich an die Brust. »Wir unterscheiden uns da also gar nicht so sehr.«
Sie aßen die kleinen Teigtaschen, deren Zubereitung Fisch sie
gelehrt hatte und die mit frischem Krabbenfleisch und Shrimps gefüllt waren. »Wir nennen diese Teigtaschen dim sum «, erklärte sie und gab ihm ein paar auf seinen Teller. »Das heißt: ›Berühr das Herz‹, kleine Freuden, die uns glücklich machen und nicht viel kosten.«
Als sie fertig waren, setzte er sich zurück, streckte seine Arme aus und verschränkte sie dann mit offenkundigem Behagen hinter dem Kopf. »Es ist an der Zeit, dass du mir von deinen Hoffnungen für die Zukunft erzählst, und vielleicht auch, dass ich andersherum dasselbe tue.« Man musste sie nicht weiter drängen. Unbemerkt holte sie den orange geäderten Jade-Handschmeichler aus ihrer Tasche. Der glatte Stein umschmeichelte ihre Finger, und Pai-Lings Chi floss in ihr Herz.
Li wählte ihre Worte sorgfältig. »Sie sind ein Geschäftsmann. Und wenn Sie Geschäftliches besprechen, dann wollen Sie, dass Klarheit herrscht.« Ben nickte. »Ohne große Hilfe habe ich gut genug Chinesisch lesen und schreiben gelernt, dass man mich nicht mehr für einen Dummkopf halten kann. Mit dem Abakus hantiere ich inzwischen schnell und sicher genug, um auf jedem Marktplatz überleben zu können, ohne übers Ohr gehauen zu werden.«
Li setzte sich auf ihrem Stuhl nach vorn. »Ich möchte Ihnen nützlich sein, aber nicht nur dadurch, dass ich bei Ihnen
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