Die Tochter der Konkubine
kurzen Brief zu schreiben; und, von vorne bis hinten langsam, aber gründlich, die South China Morning Post zu lesen, wobei sie jedes Wort, das sie nicht ganz verstand, markierte.
Inzwischen kehrte Ben öfter heim und unterhielt sich im Beisein ihrer Hauslehrerin häufig mit ihr. Er brachte ihr kleine Geschenke
mit, nichts zu Großes oder Offensichtliches - einen Sandelholzfächer aus Formosa, einen Seidenschal aus Shantung, einen Bernsteinanhänger aus Hangchow. Li, die sich der wachsamen Mächte um sie herum inzwischen noch bewusster war, bewahrte diese Dinge verborgen in ihrer Truhe auf. Sie hatte sich sogar die goldene Guinee vom Hals genommen, da sie entschlossen war, nichts zu tun, was den heimlichen Groll der anderen auf sich ziehen könnte. Unter Bens nahem Schutz und in der steten Wärme von Miss Brambles Gesellschaft empfand Li es als unmöglich, über die eigene Verletzlichkeit nachzudenken, sorgte sich jedoch zunehmend um Fisch und Ah-Kin, den Gärtner. Zwar wusste sie, dass die Zeit kommen würde, da sie mit Ben darüber sprechen musste, doch zögerte sie, freute sich stattdessen auf ihre Ausbildung als Comprador, die sie fort von Sky House ins Büro der Schiffswerft auf der Praia führen würde. Sie ließ nicht zu, dass die Unzufriedenheit Auswirkungen auf ihre Studien oder das vor ihr liegende Examen hatte, und bestand alle Prüfungen mit Bestnoten und wachsendem Selbstvertrauen, das keinen Platz für irgendwelche Ängste ließ.
Ben hatte vorgeschlagen, Miss Bramble solle sich auf seine Kosten einen wohlverdienten Urlaub nehmen, und äußerte die Hoffnung, sie würde für unbegrenzte Zeit als Lis Privatlehrerin und Gesellschafterin zurückkehren. Sie beschloss, Weihnachten mit alten Freunden in Hongkong zu verbringen und sich im neuen Jahr Gedanken über ihre Zukunft zu machen.
In den Lagerhäusern, an Bord der Firmenschiffe, wenn die Frachträume be - oder entladen wurden, und in dem winzigen Büro, das ihr in der Werft zur Verfügung gestellt wurde, wurde Li eine zunehmend vertraute Gestalt. Bald lernte sie, dass die Double-Dragon-Klipper grundsätzlich die einträglichste und gefährlichste Fracht von allen nicht transportierten - Kisten mit Rohopium, die per Schiff von indischen Mohnfeldern eingeführt und nach Gewicht gegen Silberbarren verkauft wurden. Als sie Indie einmal nach dem Grund fragte, sagte er bloß: »Das ist etwas, das Ben dir schon noch rechtzeitig erklären wird.«
Die hohen Doppeltüren zu Bens Büro in der Werft befanden sich am Ende des Flures. Ihre Messinggriffe wurden jeden Tag poliert, jedoch nur selten benutzt. Eines Nachmittags - Ben war bereits seit mehreren Wochen fort - betrat Li sein Büro, um nachzusehen, ob dort Staub gewischt werden musste. Unverzüglich schien seine Gegenwart den großen, hohen Raum auszufüllen, der eine Erweiterung seines Arbeitszimmers in Sky House zu sein schien - dieselbe Vertäfelung und derselbe reich verzierte Schreibtisch, dessen Arbeitsfläche mit demselben grünen Leder wie sein Stuhl bezogen war. Auf Wandregalen standen Raritäten und Antiquitäten. Eine riesige Vitrine war mit altem Porzellangeschirr und unbezahlbaren Jadefiguren in verschiedensten Schattierungen gefüllt.
Fast sofort wurde ihr Blick auf zwei Photographien in identischen Fotorahmen an der Wand direkt hinter dem Schreibtisch gelenkt. Eine zeigte das freundliche Gesicht einer fremdländischen Frau, kräftig, robust, mit dichtem, widerspenstigem, grauem Haar.
Neben ihr, ebenso groß und dominant, aber durch die Vergrößerung sehr körnig, war das Gesicht eines brutal aussehenden Chinesen abgebildet, dessen schwerer Kiefer in einer Drohgebärde nach vorn geschoben war und dessen Augen finster unter einer gewölbten Stirn dreinblickten, die mitsamt den Augenbrauen bis zur Schädelspitze rasiert war. Sehen konnte sie es nicht, wusste aber trotzdem instinktiv, dass er den schweren Zopf eines Boxers trug. Das Bild schien derart mit Bosheit aufgeladen, dass sie unwillkürlich davor zurückwich.
»Hässlicher bastardo , stimmt’s?« Indie Da Silvas Stimme ließ sie zusammenzucken. »Ich nehme an, du fragst dich, wer die beiden sind.« Indie stützte sich mit den Handknöcheln auf den Tisch. »Du betrachtest gerade die beiden wichtigsten Personen im Leben meines Partners. Wir teilen die Ansicht, dass man Freunde wie Feinde immer im Blick behalten … und niemals vergessen sollte.«
Indies Stimme hatte seine übliche Unbefangenheit verloren. »Die Dame heißt Aggie Gates
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