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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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innerlich gegen das, was sie nun erblicken mochte.
    Der Wärter schob den Riegel von der Tür, und Lisbeth machte vorsichtig einen Schritt in die Zelle hinein.
    Der Länge nach ausgestreckt lag die alte Mettel auf dem Stroh, und, wie Lisbeth es bei der nackten Frau gesehen hatte, auch ihr Fuß war mit einem stabilen Lederriemen gebunden. Auf dem Boden, unweit von Mettels Füßen, stand eine Eisenpfanne, in der die Reste einer Mahlzeit faulten. Zwei fette Ratten taten sich daran gütlich.
    Bei Lisbeths Eintreten fuhr Mettel auf und blinzelte sie aus kleinen Augen an. Die große Frau war sichtlich abgemagert. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Haut hing lose unter ihrem Kinn. Wenn Lisbeth ihr an einem anderen Ort begegnet wäre, hätte sie sie kaum wiedererkannt. Mettel trug keine Haube, und Lisbeth sah, dass ihr der Kopf vom Bartscherer rasiert worden war.
    Doch das Mundwerk hatte man der Alten nicht gestutzt. »Wer ist da?«, fragte sie barsch. Ihr Augenlicht schien deutlich nachgelassen zu haben, doch ihre Stimme hatte nicht an Kraft verloren.
    Lisbeth schluckte.
    »Lisbeth Ime Hofe«, sagte sie, um Freundlichkeit bemüht.
    »Ime Hofe!« Mettel spuckte den Namen förmlich aus. »Wenn du gekommen bist, um mich zu verhöhnen, dann kannst du gleich wieder abhauen!«, keifte sie und kam schwerfällig auf die Beine. Drohend baute sie sich vor Lisbeth auf, die Arme in die Hüften gestemmt.
    Lisbeth verspürte einen heftigen Stich im Unterleib, doch sie achtete nicht darauf. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um nicht vor Mettel zurückzuweichen. Die Alte war garstig, aber das war sie immer gewesen.
    »Wie geht es Euch?« Lisbeth suchte in der Frage Zuflucht, die man gewöhnlich bei Krankenbesuchen stellte.
    »Mir? Großartig, das siehst du doch!« Mettels Stimme troff vor Hohn. »Das Quartier ist sehr komfortabel, die Mahlzeiten erlesen. Nur ein wenig eintönig ist es hier, und du könntest mir ein warmes Bettjäckchen bringen.« Mettel schnaubte böse. »Herrgott, was willst du hier?«, herrschte sie und funkelte Lisbeth böse an.
    Das war ganz die alte Mettel. Unfreundlich wie ehedem. Doch Lisbeth konnte an ihr keine Spur von Wahnsinn entdecken. Auch an ihrem Blick war nichts Irres. Mit den stumpfen Gestalten, die Lisbeth in dem großen Raum gesehen hatte, hatte sie nichts gemein. Sie gehörte nicht hierher.
    »Ihr seid nicht irre«, stellte sie laut fest.
    »Nein, bin ich nicht!«, giftete Mettel. »Aber wenn ich noch länger hier drinnen bleibe, dann werde ich es!«
    Lisbeth biss sich auf die Lippe.
    »Doch diese Verrückten hier drinnen glauben es mir einfach nicht. Angekettet wie einen bissigen Hund haben sie mich! Die Wächter hier sind noch irrer als die Insassen! Und einen Saufraß bekommt man hier vorgesetzt!«, zeterte sie und trat voller Abscheu gegen die Eisenpfanne, dass es schepperte. Erschrocken stoben die Ratten davon. Der Wärter vor der Tür ließ ein deutliches Räuspern vernehmen.
    Lisbeth hatte genug gesehen und wandte sich grußlos ab. Was sollte man einem Menschen in dieser Lage auch wünschen?
    »Vergiss das Bettjäckchen nicht«, höhnte Mettel, als der Wärter die Tür hinter Lisbeth verriegelte.
    Gesenkten Blickes eilte Lisbeth den düsteren Gang entlang, und ohne die Kranken noch einmal anzusehen, trat sie in den Hof. Dankbar sog sie die klare Winterluft ein und machte sich, aufgewühlt von dem, was sie im Geckenhaus gesehen und gehört hatte, auf den Heimweg.
    So habe ich mit meiner Vermutung recht behalten, dachte Lisbeth grimmig. Mettel ist ganz und gar nicht verrückt. Heute noch würde sie dafür sorgen, dass man Mettel aus Sankt Revilien entließ und Grete eingehend zu den Vorgängen befragte, beschloss Lisbeth. Dann würde sich zeigen, ob Grete tatsächlich versucht hatte, sich ihrer eigenen Mutter auf so grausame Weise zu entledigen.
    Und wenn es so war, wovon Lisbeth nun ausging, dann würde man sie für ihre Schandtaten zur Rechenschaft ziehen. Diesmal würde sie nicht ungeschoren davonkommen! Es war an der Zeit, dass man Gretes Boshaftigkeit, die nicht einmal vor der eigenen Mutter haltmachte, einen Riegel vorschob.
    In Gedanken versunken passierte Lisbeth die Goldwaage und hatte gerade Unter Spormacher erreicht, als ihr plötzlich ein scharfer Stich in den Unterleib fuhr. Der Schmerz kam überraschend und war so heftig, dass Lisbeth sich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Beinahe im selben Moment spürte sie, wie ihr etwas Feuchtes die Beine hinablief und ihre

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