Die Tochter der Seidenweberin
in ihr aufstieg. Sie schluckte ein paar Mal trocken und versuchte, ihren Ekel zurückzudrängen. Von der Helligkeit draußen geblendet, konnte sie in dem großen Raum zunächst nichts erkennen. Doch als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entfuhr ihr ein Laut des Entsetzens.
Das flackernde Licht des Kamins in der Ecke des Raumes erhellte einen grauenvollen Anblick. Auf den Bänken ringsum der unverputzten Wände hockten abgerissene Kreaturen – manche lagen mehr, als sie saßen –, und auch im niedergewälzten Stroh auf dem Boden kauerten ein paar der bedauernswerten Gestalten. Ihre Kittel starrten vor Dreck, und man hatte ihnen die Haare geschoren. Lisbeth spürte ihre stumpfen Blicke auf sich gerichtet, und sie getraute sich kaum, in die vom Wahn verwüsteten Gesichter zu blicken.
Eine Frau in mittleren Jahren schlug monoton die Handflächen aneinander, ohne Unterlass, wieder und wieder. Eine andere, weit älter an Jahren, lag auf dem Boden an die Wand gekauert, Arme und Beine wie ein Säugling an sich gezogen, die Hände wie zum Schutz über dem Kopf gefaltet.
»Juhuääääää!«, jaulte jemand plötzlich auf, und Lisbeth fuhr zusammen. Ein Mann mit dem gebeugten Körper eines Greises hatte die Nase der niedrigen Decke zugewandt und heulte wie ein Hund. Dabei wirkte sein aufgedunsenes Gesicht jung und unschuldig wie das eines Kindes.
»Die da sind harmlos«, murmelte der Wärter, wies in Richtung der Kranken und schickte sich an, in den Gang zu treten, der rechter Hand von dem Raum abging.
In dem Moment glitt einer der armen Wichte von der Bank und hockte sich mitten in den Raum. Er hob seinen Kittel, entblößte sein Hinteres und begann seelenruhig seine Notdurft in das Stroh zu verrichten. Mit einem Satz war der Wächter bei ihm und packte ihn im Nacken. Grob riss er ihn auf die Beine und schob ihn mit Nachdruck durch die Tür ins Freie, den Latrinen zu, damit er dort sein Geschäft erledige.
Plötzlich hörte Lisbeth ein Rascheln neben sich im Stroh, spürte, wie eine Hand nach ihren Beinen griff und wie jemand versuchte, sich an ihr hochzuziehen. Ihr entfuhr ein Schrei, und sie wich entsetzt zurück. Ihres Halts beraubt, sank die elende Gestalt jämmerlich zurück auf die schmutzigen Halme.
Trotz des Gestanks zwang Lisbeth sich, die verfaulte Luft tief ein- und auszuatmen, um sich zu beruhigen. Am liebsten wäre sie einfach davongerannt. Es war so unsagbar schrecklich an diesem Ort. Und das Schlimmste stand ihr noch bevor.
Warum war sie nur hergekommen, fragte Lisbeth sich. Was hatte sie mit der alten Mettel zu schaffen? Und warum nur war sie allein gekommen? Sehr viel hätte sie darum gegeben, wenn Clairgin jetzt bei ihr wäre und ihr zur Seite stünde. Doch sie konnte immer noch umkehren und nach Hause gehen.
Nein, entschied Lisbeth und straffte die Schultern. Sie hatte sich die Sache nun einmal in den Kopf gesetzt, und nun musste sie sie auch durchstehen.
Dankbar bemerkte sie, dass der Wärter endlich vom Hof zurückkehrte, und folgte ihm in den Gang hinein. Zu beiden Seiten des schmalen Flurs gingen je vier massive Holztüren ab, gesichert mit schweren eisernen Riegeln.
In den Türen befanden sich Klappen, von denen der Wärter nun eine anhob. Lisbeth erhaschte einen Blick in die schmale Kammer. Auf einer dünnen Schicht faulenden Strohs erkannte sie eine abgezehrte Gestalt, deren Fuß mit einem Lederriemen an einen eisernen Ring gebunden war, den man in die Wand eingelassen hatte. Völlig nackt lag die Frau auf dem eisigen Boden. Lisbeth erschauerte.
»’tschuldigung, falsche Tür«, knurrte der Wärter. Dann bemerkte er Lisbeths Erschrecken. »Lohnt sich nicht, die anzukleiden«, erklärte er. »Die reißt sich die Sachen eh gleich wieder vom Leib.« Mit einem Krachen schlug er die Klappe zu und trat zur nächsten Tür. Er warf einen kurzen Blick durch die Luke und nickte zufrieden. »Hier, das ist sie«, sagte er und trat einen Schritt zurück, um Lisbeth einen Blick auf die Insassin der Zelle zu gewähren.
Lisbeth winkte ab. »Öffnet mir die Tür!«
Verblüfft starrte der Wärter sie an. »Ihr wollt da hinein? Seid Ihr sicher?«, fragte er. »Die in den Hundehäusern sind gefährlich, die sperren wir nicht umsonst weg.«
»Ganz sicher!«, beschied Lisbeth ihm, bemüht, ihrer Stimme mehr Zuversicht zu verleihen, als sie tatsächlich empfand.
»Na gut. Aber beklagt Euch nachher nicht bei mir, wenn sie Euch etwas zuleide tut.«
Lisbeth nickte und wappnete sich
Weitere Kostenlose Bücher