Die Tochter der Seidenweberin
gleichen vier Schritt zurück zur Tür. Abwesend schenkte er sich etwas Wein in einen Becher. Er hatte gar nicht gewusst, dass Lisbeth in Umständen war. Dabei hätte sie doch außer sich sein müssen vor Freude. Doch davon hatte er ebenfalls nichts gemerkt, dachte er ein wenig schuldbewusst.
Nun, er war ein vielbeschäftigter Mann. Dreimal in der Woche musste er an den Ratsversammlungen teilnehmen, und seine Geschäfte konnte er derweil nicht vernachlässigen.
Warum hatte Lisbeth ihm nicht gesagt, dass sie ein Kind erwartete? Wusste sie denn nicht, wie sehr auch er sich Kinder wünschte?
Mertyn blickte auf, als es an die Tür des Kontors klopfte: Er möge doch sogleich zu seiner Gemahlin kommen. Besorgt hastete er die Treppen hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Ging es Lisbeth schlechter, fragte er sich bange. Als er sie vorhin auf ihrer Bettstatt niedergelegt hatte, war sie doch bereits wieder bei Bewusstsein gewesen.
Zu Mertyns grenzenloser Erleichterung fand er seine Gemahlin aufrecht im Bett sitzend. »Lisbeth! Gott sei es gedankt!« Aufatmend ließ er sich auf der Kante ihrer Bettstatt nieder und schloss sie in die Arme. »Du darfst nicht traurig sein«, flüsterte er, bemüht, seine eigene Enttäuschung zu verbergen.
Doch seine tröstend gemeinten Worte erreichten bei Lisbeth das Gegenteil. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wollte jetzt kein Mitleid. Das machte alles nur schlimmer. »Mertyn, ich muss …«, hob sie an.
»Scht! Du musst dich jetzt ausruhen und gesund werden. Und wenn du wieder bei Kräften bist …«
»Aber …«, unterbrach Lisbeth ihn.
»Nichts aber! Ich bin sicher, wir werden noch Kinder bekommen! Einen ganzen Stall voll, du wirst sehen!« Mertyn gab sich Mühe, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen.
»Mertyn, hör mir zu!«
Lisbeths energischer Tonfall ließ ihn aufhorchen.
»Ich war in Sankt Revilien!«
»Wo warst du?« Entsetzt starrte Mertyn seine Frau an. Redete sie im Fieberwahn?
»In Sankt Revilien«, wiederholte Lisbeth.
»Was, um Himmels willen, hattest du dort zu suchen?«
»Ich habe die alte Mettel besucht.«
»Lisbeth, du bist krank!« Besorgt legte Mertyn ihr die Hand auf die Stirn, um zu fühlen, ob sie erhitzt war.
»Nein, Mertyn. Hör mir zu. Es ist wichtig!«, widersprach Lisbeth eindringlich. In ruhigen Worten erzählte sie ihm von der Beobachtung des Elnerschen Lehrmädchens und schilderte ihren grauenvollen Besuch im Geckenhaus.
Zweifelnd zunächst, dann jedoch mit wachsendem Staunen lauschte Mertyn Lisbeths Worten. Ihre Stimme war fest, und ihm wurde bald klar, dass seine Frau vollständig bei Sinnen war und man es hier möglicherweise mit einem bösen Verbrechen zu tun hatte.
Als Lisbeth geendet hatte, ließ sie sich ermattet in die Kissen zurücksinken. »Unternimm etwas dagegen«, bat sie ihren Gemahl. »Zeige Grete beim Rat an.«
Zärtlich strich Mertyn ihr eine tränenfeuchte Strähne aus dem Gesicht. »Das werde ich«, versprach er. »Da kannst du sicher sein. Aber nur, wenn du dich jetzt ausruhst und schnell gesund wirst.«
»Werte Frau Mutter!« Lisbeth setzte die Worte schwungvoll auf das Blatt, dann nahm sie noch einmal Fygens Brief zur Hand und überflog die ersten Absätze. Erneut griff sie zur Feder. »Es freut mich, zu lesen, dass Ihr und Euer Gemahl wohlauf seid und Euch bester Gesundheit erfreut«, schrieb sie. »Ich selbst bin eben erst von einem Missfall genesen, der mich eine Weile ans Bett gefesselt hat.«
Für einen Moment hielt sie inne. Ausführlich vermochte sie nicht über den schmerzlichen Verlust ihres Kindes zu berichten – zu quälend waren die Erinnerungen –, und überdies würde sie ihre Mutter nur beunruhigen. Bedächtig strich Lisbeth sich mit dem weichen Flaum der Feder über den Handrücken und überlegte sich die nächsten Sätze.
»Hier hat sich eine Geschichte zugetragen, die Ihr kaum glauben mögt: Grete Elner hat ihre Mutter ins Geckenhaus gebracht …«, fuhr sie schließlich fort und berichtete Fygen in kurzen Sätzen von Gretes Schandtaten und ihrem Besuch bei Mettel in Sankt Revilien.
»… Der Rat handelte schnell«, schrieb sie. »Auf Mertyns Eröffnung hin befragte man Mettel und kam zu dem gleichen Schluss wie ich: Die alte Mettel ist nicht verrückt!
Grete muss völlig außer sich geraten sein, als die Büttel sie in ihrer Werkstatt verhafteten und vor den erschreckten Augen ihrer Lehrmädchen aus dem Haus zerrten. Sie muss geschrien und getobt haben, doch
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