Die Tochter der Seidenweberin
neue Bestimmung im Transfixbrief konnte Grete zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gewusst haben. Oder doch? In Lisbeth keimte ein böser Verdacht. Hatte es bereits Pläne für einen neuen Transfixbrief gegeben, ohne dass Mertyn etwas davon geahnt hatte? Wäre er womöglich auch ohne ihr Zutun entstanden?
Nein, das war wohl zu weit hergeholt, verwarf Lisbeth den Gedanken. Doch ob Grete nun um die neuen Bestimmungen gewusst haben mochte oder nicht, man durfte keinesfalls den Fehler machen, sie zu unterschätzen. Wie schwer wog die Schande gegen Mettels Vermögen und eine eigene Weberei denn wirklich? Mit einem Mal kam Lisbeth die Vorstellung, dass Grete ihre eigene Mutter ins Geckenhaus getrieben hatte, gar nicht mehr so abwegig vor.
Ratlos lehnte Lisbeth sich auf der Bank zurück. Was sollte sie nun mit ihrem Verdacht anfangen? Wenn Mettel tatsächlich verrückt war, dann konnte man nichts dagegen unternehmen. Doch Lisbeth glaubte nicht, dass Mettel verrückt war. Sie war durchgedreht, aber die Schimären, die sie jagten, konnten sie im Geckenhaus nicht erreichen. Womöglich war sie wieder ganz bei Sinnen, saß dort zwischen den Verrückten, und niemand glaubte ihr, dass sie nicht gemeingefährlich war. Lisbeth spürte, wie sich bei der Vorstellung die Härchen auf ihren Armen aufstellten.
Nicht dass sie allzu großes Mitleid mit Mettel hatte. Sie war eine unangenehme, garstige Person, aber ins Geckenhaus gesperrt zu werden hatte auch sie nicht verdient. Nicht, wenn sie nicht wirklich irre war, dachte Lisbeth empört. Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten.
Sie würde herausfinden müssen, ob Mettel verrückt war. Doch wenn sie recht behielt und Mettel bei Sinnen war, dann würde sie dafür sorgen, dass man Grete eingehend befragte, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das schwor Lisbeth sich.
Ein eisiger Wind trieb Lisbeth Tränen in die Augen. Schützend zog sie ihren Mantel enger um sich, doch der Wind drang sogar durch das schwere Wolltuch. Die Pfützen in den Gassen waren von schmutzigem Eis überkrustet, und Lisbeth achtete darauf, auf dem gefrorenen Unrat nicht auszurutschen. Trotzdem beschleunigte sie ihren Schritt, damit ihr wärmer wurde. Kleine Atemwölkchen stiegen von ihrem Mund in den klaren Morgenhimmel, und als Lisbeth schließlich in die Stolkgasse einbog, war ihr endlich warm geworden.
In den Fenstern von Sankt Revilien spiegelte sich die kalte Wintersonne. Bezeichnenderweise lag das Hospital am nördlichen Rand der Stadt, unweit der Weingärten des Stiftes Sankt Ursula und damit fernab der prächtigen Bauten um den Alter Markt und Dom. Denn Siechtum und Tod boten beileibe keinen Anblick, den man den ungezählten Besuchern der Stadt, Händlern wie Pilgern, zumuten mochte.
Und seit Johann Rinck das Kloster mit einer Stiftung von tausend Goldgulden bedacht hatte, war dies noch wichtiger geworden, denn mit dieser großzügigen Spende hatten die Provisoren des Krankenspitals Sankt Revilien einen unbewohnten Beginenkonvent hinter ihrem Hospital zu einem Heim für Sinnlose umgebaut, deren Schreie und Gelärm mitunter in erschreckender Lautstärke auf die Straßen schallte.
Als Lisbeth auf den Kirchhof trat, war von Schreien und Gelärm indes nichts zu hören. Der Kirche gegenüber lagen die Spitalsgebäude, von einer hohen Mauer umfriedet, still inmitten ihrer Gärten. Kaum mochte man glauben, dass dies ein Ort der Krankheit und des Wahnsinns war.
Ein mürrisch dreinblickender Wärter öffnete auf Lisbeths Klopfen hin das schwere Tor.
»Ihr wünscht?«, fragte er gelangweilt.
»Zur Mettel Elner möchte ich.«
»Zur Elnerschen?« Der Mann hob die Brauen bis zum Ansatz seines schütteren Haares. »Da seid Ihr die Erste«, sagte er und musterte sie unentschlossen. »Seid Ihr eine Verwandte?«
»Ja, sie ist die Base meines Oheims«, log Lisbeth.
»Na, wenn Ihr unbedingt wollt«, brummte der Wärter und ließ Lisbeth in den großzügigen Hof treten. »Wir haben sie in eines der Hundehäuschen gesteckt.«
Schlurfenden Schrittes führte er Lisbeth an dem Spitalsgebäude vorbei und quer über den Hof, einem einstöckigen Bau entgegen, der sich am rückwärtigen Ende des Hofes gegen die Mauer lehnte. Rechter Hand erkannte Lisbeth eine kleine Kapelle, hinter der kahle Obstbäume ihre Zweige in den klaren Morgen reckten.
Umständlich öffnete der Wärter die Tür und ließ Lisbeth eintreten. Ein ekelhaft fauliger Gestank schlug ihr entgegen und nahm ihr den Atem. Lisbeth spürte, wie Übelkeit
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