Die Tochter der Seidenweberin
Strümpfe durchweichte. Blind tastend suchte sie Halt an einer Hauswand und krümmte sich zusammen.
Das Kind! Sie verlor ihr Kind! Der Gedanke erfüllte sie vom Kopf bis zu den Zehen mit grausiger Kälte. Um sie herum verloren alle Dinge ihre Farbe, nahmen ein schmutziges Grau an. Nein! Das durfte nicht sein! Lisbeth schlang schützend die Arme um den Leib, Tränen der Verzweiflung rannen ihr über das Gesicht.
Nach Hause! Sie musste so schnell wie möglich nach Hause gehen, dachte sie. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
Keuchend richtete Lisbeth sich auf und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Es war nicht mehr weit bis zur Obermarspforte, doch die Pein machte ihr das Gehen beinahe unmöglich. Abermals krümmte sie sich vor Schmerz zusammen, hätte sich am liebsten auf den gefrorenen Boden der Straße gelegt, bis der Schmerz nachließ. Doch sie wusste, sie musste weitergehen. Mühsam, Schritt für Schritt, schleppte sie sich voran, und nach einer Weile verlor der Schmerz ein wenig von seiner Schärfe.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie schließlich das Haus Zur Roten Tür erreichte. Schwer schleppte sie sich die wenigen Stufen hinauf, und als sie die Tür aufstieß, troff ihr das Blut bereits auf die Schuhe.
Mertyn eilte ihr aus seinem Kontor entgegen. »Mein Gott, Lisbeth! Was ist geschehen?«, rief er entsetzt, als er das Blut sah.
Lisbeths Gesicht war kreidefarben. Unfähig, zu antworten, taumelte sie auf Mertyn zu. Es gelang ihm gerade noch, seine Frau aufzufangen, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Auf seinen Armen trug Mertyn Lisbeth in ihre Kammer und blieb bei ihr, bis man die Hebamme geholt hatte. Doch dann verzog sich der Hausherr in sein Kontor. Das hier war Sache der Frauen. Dabei hatte er nichts zu suchen.
So plötzlich der Schmerz und die Blutung begonnen hatten, so jäh ließen sie auch nach. Die Hebamme untersuchte Lisbeth gründlich, dann schüttelte sie teilnahmsvoll den Kopf. »Da ist nichts zu machen«, sagte sie. »Ihr habt Euer Kind verloren.«
Lisbeth schluckte, bemüht, die Tränen zurückzudrängen, die ihr in die Augen stiegen.
»Ihr seid noch jung, Ihr werdet andere Kinder haben«, tröstete die Wehmutter und tätschelte ihr die Wange. »Ruht Euch aus, bleibt eine Weile im Bett und erholt Euch«, ordnete sie an. »Dann wird es schon wieder werden. Wer ein Mal schwanger wird, der wird es auch ein zweites Mal.«
Als sie schließlich allein in ihrer Kammer lag, konnte Lisbeth ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Hoffnungslos rannen sie ihr die Wange hinab und sickerten in die Kissen. Die aufmunternd gemeinten Worte der Hebamme vermochten Lisbeth nicht zu trösten. Sie hatte auch schon gehört, dass Frauen nach einem Missfall einen weiteren hatten. Oder dass sie nie wieder empfingen. In ihr war nur ein einziger Gedanke: Sie hatte ihr Kind verloren!
Ihr alter Kummer, die Enttäuschung über ihre Kinderlosigkeit, die sie jahrelang fest in einen Winkel ihres Herzens verbannt hatte wie einen Geist in die Flasche, war mit Macht aus seinem verkorkten Gefängnis entkommen und drohte sie zu überwältigen.
Lisbeth wollte nicht an das Kind denken. Das Kind, das sie hätte haben können. Sie wollte sich nicht die Frage stellen, warum? Warum gerade sie ihr Kind verlor. Wollte nicht über Gerechtigkeit nachdenken.
Natürlich war es nicht gerecht! Jahre hatte es gedauert, bis sie überhaupt schwanger geworden war, und dann verlor sie ihr Kind in den ersten Wochen. Da wäre es gnädiger gewesen, sie wäre erst gar nicht in Umstände gekommen! Doch Gnade konnte man sich nicht aussuchen. Man durfte nur darauf hoffen, sie geschenkt zu bekommen.
Über all das wollte Lisbeth nicht grübeln. Nicht jetzt. Es war geschehen, und keine Macht der Welt konnte daran etwas ändern. Diese Gedanken schmerzten Lisbeth weit schlimmer als die Krämpfe, die sie gepeinigt hatten.
Wie einem Ertrinkenden das rettende Ufer, blitzte ihr plötzlich der Gedanke an die alte Mettel in Sankt Revilien auf, und beinahe dankbar klammerte sie sich daran, denn er lenkte sie von ihrer Verzweiflung ab. Die Angelegenheit duldete keinen Aufschub! Sie musste dafür sorgen, dass man Mettel aus dem Geckenhaus entließ und dass Grete ihre gerechte Strafe erhielt. Entschlossen richtete Lisbeth sich auf ihrer Bettstatt auf und rief nach ihrer Magd. Sie wünsche umgehend ihren Gemahl zu sprechen.
Mertyn unterbrach seine Wanderung, die ihn in seinem Kontor vier Schritt dem Fenster zuführte, dann wieder die
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