Die Tochter der Seidenweberin
weiter. Sie hatte beinahe die Ecke zur Obermarspforte erreicht, als der Rauch zu dicken grauen Wolken zusammenwuchs und ihr die Tränen in die Augen trieb. Eine Wand aus Hitze schlug ihr entgegen, Flammen züngelten aus dem Dachstuhl und den Fenstern eines Hauses auf der rechten Straßenseite. Aus dem Rauch drang ein hohes Schreien und das Rufen von Männerstimmen. Durch die beißenden Schwaden hasteten Menschen hin und her, reichten Eimer und schütteten Wasser in die Flammen, das zischend verdampfte.
War es nur dieses Haus, das brannte, oder hatte das Feuer auch die dahinter liegenden Häuser erfasst, fragte Lisbeth sich bang. Wie stand es in der Obermarspforte? Das Haus Zur Roten Tür war nicht mehr weit entfernt. Wenn ein ungünstiger Wind das Feuer nährte, mochte es leicht ganze Straßenzüge erfassen und alles auf seinem Weg in Asche legen.
Rauch hüllte Lisbeth ein, und die Flammen schlugen so hoch in den Himmel, dass sie nichts erkennen konnte. Es schien, als erhebe sich vor ihr eine brennende Wand, die kein Durchkommen gewährte.
Die Sorge ließ Lisbeth keine Ruhe. Sie musste nach Hause! Wenn sie sich ganz dicht an das gegenüberliegende Haus hielt, überlegte sie fieberhaft, könnte sie vielleicht die Brandstelle passieren. Tastend trat sie einen Schritt näher an das Feuer heran.
Hitze und Rauch füllten die Gasse auf der ganzen Breite, krochen Lisbeth entgegen. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu schmerzen begann, und zog sich schützend das Tuch ihres Mantels vor das Gesicht, so dass nur noch ein schmaler Schlitz für die Augen blieb. Beherzt machte sie einen weiteren Schritt nach vorn.
In dem Moment löste sich krachend ein Balken in dem brennenden Dachstuhl. Das ganze Dach geriet in Bewegung, stürzte herab und zerbarst in glühende Teile. Ein verkohlter Balken verfehlte knapp Lisbeths Schulter, und Tausende glühender Funken hüllten sie ein. Entsetzt schrie Lisbeth auf und taumelte zurück. Ein weiterer Balken fiel herab, dann brach die Giebelwand des Hauses in sich zusammen. An der Stelle, wo Lisbeth noch vor einem Moment gestanden hatte, war nunmehr ein Haufen aus rauchendem Schutt und Steinen.
Lisbeth schluckte trocken. Es hatte nicht viel gefehlt, und das einstürzende Haus hätte sie unter sich begraben. Hier war wirklich kein Durchkommen. Sie musste es auf einem anderen Weg versuchen.
Sie ließ den Saum ihres Mantels los und rannte mit fliegenden Röcken die Gasse zurück, fort, nur fort von dieser flammenden Hölle. Rauch drang ihr in Mund und Nase, Tränen rannen ihr die Wangen hinab und malten weiße Spuren auf ihr rußgeschwärztes Gesicht.
Hustend eilte sie am Haus Zum Kleinen Schönwetter vorbei. Aus dem Hof drang ebenfalls Rauch. Fahrig griff Lisbeth wieder nach dem Mantel und presste ihn erneut auf Mund und Nase, als sie das benachbarte Haus Xanten, in dem die Berchem-Schwestern wohnten und ihr Kontor hatten, passierte. Eben trat eine Gestalt durch die Tür, und ein misstrauischer Blick aus grau-grünen Augen traf Lisbeth. Flüchtig erkannte sie Jacoba, das undankbare Lehrmädchen von Clairgin, das nun für die Berchems arbeitete.
Ohne stehen zu bleiben, hastete Lisbeth weiter, bog in die nächste Gasse ein, in die übernächste. Die Tränen trübten ihr den Blick, und immer wieder quälte sie trockener Husten. Ein weiteres Mal bog sie ab und sah sich unvermittelt einer neuen Wand aus Feuer und Rauch gegenüber. Auch hier ging es nicht weiter, musste sie entmutigt feststellen. Auch hier war ihr der Weg versperrt.
In Lisbeth wuchs die Verzweiflung. Wie, um Himmels willen, sah es in der Obermarspforte aus? Was war mit dem Haus Zur Roten Tür? Vor ihrem inneren Auge sah Lisbeth bereits Flammen aus dem Dachstuhl ihres Hauses schlagen, doch energisch versuchte sie die Bilder zurückzudrängen. Abermals kehrte sie um und hastete in die entgegengesetzte Richtung davon.
Mit ungewohnter Plötzlichkeit senkte sich die Dämmerung über die Stadt, doch die Nebeldecke schien sich gehoben zu haben, denn deutlich zeichneten die Feuer nun an vielerlei Stellen rotgefärbte Flecken an die schweren Wolken.
Lisbeth lief weiter, immer weiter, bis ein Stechen in der Seite sie zwang, stehen zu bleiben. Hier war kein Rauch mehr, stellte sie mit Erleichterung fest und blickte sich um. Die Gasse erschien ihr fremd. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wo sie war.
Ein paar Mal atmete sie tief durch, bis ein neuerlicher Hustenanfall sie schüttelte. Ihr Herz raste, und ihre Beine brannten vor Schmerz.
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