Die Tochter der Seidenweberin
Mühsam schleppte sie sich noch ein kleines Stück weiter, dann lehnte sie sich kraftlos an die bröckelnde Fassade eines Hauses und schloss die tränenden Augen.
Einen Moment lang genoss Lisbeth die wohltuende Schwärze. Das Brennen in den Beinen ließ nach, und allmählich beruhigte sich auch ihr Atem. Die Schwärze wurde tiefer und dichter. Lisbeth spürte vage, wie sie an der Wand hinabglitt, dann war das Schwarz überall.
Erschreckt riss Lisbeth die Augen auf. Für einen Augenblick musste sie das Bewusstsein verloren haben. Doch nein, es musste länger als ein Moment gewesen sein, erkannte sie. Denn sie saß nicht, wie sie erwartet hatte, im Freien an eine Hauswand gelehnt auf dem Boden, sondern lag ausgestreckt auf einer strohgepolsterten Pritsche. Über ihr wölbte sich eine niedrige, höhlenartige Decke, von der getrocknete Kräuterbündel, Knollen und Wurzeln, aber auch allerlei Hausrat wie Töpfe, Tiegel und Kellen an Haken und Seilen herabbaumelten. In wessen Wohnstatt auch immer sie sich befinden mochte, in Ermangelung gerader Wände, an die man ein Regal hätte lehnen können, schienen die Bewohner die Decke als Aufbewahrungsort zu verwenden.
Lisbeth rieb sich über das Gesicht und schluckte trocken. Ihre Augen brannten immer noch, und ihr Mund war wie ausgedörrt. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde. Rasch setzte sie sich auf und blickte sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, maß vielleicht drei auf vier Schritte. Zur Straße hin hatte er keine Wand, sondern konnte mit einer Lade verschlossen werden, die nun offen stand.
Die ganze Behausung ähnelte eher einem Fuchsbau als einem Haus, stellte Lisbeth fest. Überall standen oder lagen Bündel, Kisten und Gerät, kaum dass die schmale Bettstatt, auf der sie lag, dazwischen ihren Platz hatte finden können.
Ein meckerndes Lachen drang an ihr Ohr, und es dauerte einen Moment, bis sie in dem Gewirr um sie her ein Gesicht ausmachen konnte.
Eine alte Frau erhob sich von einem dreibeinigen Hocker, trat zu ihr und reichte ihr einen angestoßenen Becher. »Da bist du ja endlich!«, sagte sie. »Ich hatte dich schon viel eher erwartet!«
Dankbar griff Lisbeth nach dem Becher und nahm einen tiefen Schluck. Es war weder Bier noch Wein, sondern schien ein Sud zu sein, in den man allerlei Kräuter gegeben hatte. Obschon das Gebräu seltsam schmeckte, leerte Lisbeth den Becher durstig bis zur Neige. Dabei betrachtete sie die Alte aufmerksam über den Rand des Bechers hinweg.
Ihre Haut war von einem tiefen Braun wie dem der fahrenden Leute. Doch aus dem ledrigen dunklen Gesicht blickten überraschend helle smaragdgrüne Augen. Von dem orangefarbenen Tuch, das die Frau sich um ihr Haar gewunden hatte, baumelte ihr wie ein drittes Auge ein geschliffener grüner Edelstein auf die Mitte der Stirn herab. Lisbeth überlegte, ob es sich um einen echten Edelstein handeln mochte, doch angesichts der Ärmlichkeit der Hütte war er vermutlich aus buntem Glas.
Die Worte der Alten waren nicht weniger wunderlich als ihre Wohnstatt und ihr Aussehen. Der vertraulichen Anrede nach schien die sonderbare Alte sie zu kennen, doch Lisbeth war sich sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben. »Danke für Eure Hilfe«, sagte sie und machte Anstalten, sich zu erheben. Es drängte sie, nach Hause zu kommen.
Mit ihrer knochigen Hand hielt die Alte sie zurück und drückte sie mit Nachdruck auf die Bettstatt nieder. »Dann werden wir uns jetzt mal um deinen Wunsch kümmern!«, sagte sie.
Energisch setzte Lisbeth sich auf und richtete ihre Röcke. Sie wollte nicht unhöflich sein, denn immerhin hatte die Alte sie von der Straße aufgehoben, doch ihr stand jetzt nicht der Sinn nach fragwürdigem Hokuspokus. »Nochmals Dank für Eure Hilfe, aber ich muss jetzt gehen«, sagte sie höflich, doch bestimmt, und nestelte ein Geldstück aus ihrem Beutel.
Wieder ließ die Alte ihr meckerndes Lachen hören. »Du brauchst dich nicht zu eilen, im Haus Zur Roten Tür steht alles zum Besten. Im Moment kommst du ohnehin nicht zur Obermarspforte durch«, erklärte sie kichernd.
Verblüfft ließ Lisbeth sich zurücksinken. Woher wusste die Alte, was sie umtrieb?
»Na also!«, brummte die Alte und griff mit ihrer klauenförmigen Rechten nach Lisbeths Haube. Ehe Lisbeth gewahr wurde, was diese beabsichtigte, war die Alte mit ihren dürren Fingern unter ihre Haube gefahren und hatte ihr eines ihrer langen dunklen Haare ausgerissen.
»Autsch!«, rief Lisbeth. »Was macht Ihr denn da?«
»Du willst
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