Die Tochter der Seidenweberin
alle, die kauften und verkauften, eine unwiderstehliche Anziehung aus.
Eine neuerliche Staubwolke trieb Lisbeth Tränen in die Augen und ließ sie blinzeln. Der Wagen von Johann und Frieda Medman, der in der Kolonne direkt vor ihr rollte, war kaum zu erkennen. Dies war der vierte und letzte Reisetag, und sie hatte von Staub und Dreck, vom Rütteln und Schaukeln, von jedem Stoß, der sie erschütterte, wenn die Räder des Fuhrwerks wieder in eines der Schlaglöcher gerieten, gründlich die Nase voll. Wenngleich ihr Fuhrmann ein erfahrener Wagenlenker war, so gelang es ihm doch nicht immer, die Löcher in der ausgefahrenen Fahrrinne zu umgehen.
Der Zug geriet ins Stocken und blieb stehen. Bewaffnete Reiter preschten herbei. Für einen Moment erschrak Lisbeth, doch dann erkannte sie das hölzerne Kreuz am Wegrand, das die Geleitgrenze markierte.
Aus dem Staub tauchte Stephans Gesicht auf. Ihr Schwager zügelte sein Pferd und ließ es neben Lisbeths Wagen im Schritt gehen. »Wir haben es bald geschafft«, sagte er aufmunternd. »Es ist die letzte Geleitsgrenze, und das da« – er wies auf die Berittenen – »sind schon die Frankfurter Schutztruppen. Bis zur Stadt sind es nurmehr fünf Meilen.«
Der Zugführer reichte dem Anführer des Trupps sein Geleitschreiben, und es verstrich eine Weile, bis die Papiere geprüft und das Geleitgeld entrichtet worden war. Dann endlich schien alles geklärt. Die Landsknechte, die den Zug die letzte Etappe auf der Altstraße begleitet hatten, um sie vor Wegelagerern und Diebesbanden zu schützen, grüßten, wendeten ihre Pferde und ritten davon. Ihre Arbeit war getan.
Flankiert von seinen neuen Beschützern, setzte sich der Zug alsbald wieder in Bewegung, um nun noch das letzte Stück des Weges hinter sich zu bringen, und Lisbeth seufzte auf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein kühlendes Bad und ein anständiges Nachtmahl.
Stephan schien ihre Gedanken erraten zu haben. Mit einem jungenhaften Lächeln band er eine Feldflasche von seinem Sattel, entkorkte sie und reichte sie ihr. Dankbar nahm Lisbeth einen tiefen Schluck, und ein anerkennendes Lächeln breitete sich über ihre verstaubten Züge. Die Flasche enthielt nicht, wie sie erwartet hatte, dünnes Bier oder gewässerten Wein, sondern einen ausnehmend guten, vollmundigen Rotwein. Stephan hatte recht, dachte sie. Warum sollte man es sich nicht gutgehen lassen und die Annehmlichkeiten der Messe genießen? Die Anstrengungen hatte man ja auch zu ertragen.
Und die hatten beileibe nicht erst mit dem ersten Tag der Geleitwoche, jenen vier Tagen vor Messebeginn, an dem man die Heimatstadt verlassen hatte, begonnen. Denn wie stets waren der Abreise Wochen fieberhafter Betriebsamkeit vorangegangen.
Beizeiten hatte Lisbeth Färber Quettinck daran erinnert, ihre gefärbten Tuche rechtzeitig zu liefern, und sie hatte die Lehrmädchen auf Trab gehalten, allerlei Besorgungen zu erledigen: Es fehlte an Schnur und an Leinwand.
Tagelang hatten die Lehrmädchen und Helferinnen daraufhin die farbigen Ballen in Leinen geschlagen, für den Transport zu Bündeln geschnürt und diese schließlich in gewachstes Tuch eingenäht, damit weder Regen noch Rheinwasser oder gar der Kot der Möwen sie beschmutzen würden.
Mathias, Mertyns Kaufmannsknecht, hatte die Packen auf einen Karren geladen und zum Rheinufer kutschiert, wo sie schließlich auf einen der Oberländer verladen wurden, jene hochbordigen Schiffe, deren geringer Tiefgang es ihnen ermöglichte, die flacheren Gewässer des Mittelrheins mit seiner schmalen Fahrrinne zu befahren – flussaufwärts freilich an Treidelstricken und mit der Kraft ihrer Ruder.
Wie die meisten Waren würden Lisbeths Seidenballen Frankfurt auf dem Wasserweg den Rhein hinauf über Mainz erreichen. Trotz der vielen Zollstellen war das weitaus günstiger als der teure Landtransport, wenn auch die Schiffer natürlich, wie in jedem Jahr vor der Messe, ihre Unentbehrlichkeit genutzt hatten, um ihre Frachtraten zu erhöhen. Entscheidend war, dass man in Mainz den Vorzug genoss, dass die für Frankfurt bestimmten Schiffe nach Visitation und Entrichtung der üblichen Stapelgebühren weiterfahren durften, ohne ihre Ware entladen zu müssen.
Doch auch wenn ein Großteil der Waren auf dem Wasser reisen würde, so blieb noch genügend, was auf die Karren der hessischen und Westerwälder Fuhrleute geladen wurde, vornehmlich kostbare Frachten wie Safran, Pfeffer und Muskat oder Gold- und Silberwerk, und hier und da
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