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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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überqueren.
    Von seinen Höhen aus erblickte Fygen zum ersten Mal das Mittelmeer, und ihr war es, als hätte sie nie zuvor etwas Schöneres gesehen. Mit den bleifarbenen Wassern der Nordsee hatte dieses Meer nur den Namen gemein. Tiefblau, schimmernd wie feinstes Seidentuch, lag es unter ihr, und seine Ränder verwoben sich im milchigen Dunst mit dem nicht minder blauen Himmel.
    Wenige Tage nur hatten sie Aufenthalt in Genua genommen, doch die hatten ausgereicht, dass Fygen ein Stück ihres Herzens an die lebhafte Hafenstadt verlor. An den Fuß der steil ansteigenden Berge des Apennin geklammert, schien sie sich ganz dem Meer zugewandt zu haben und war von einer wehrhaften Mauer umgeben, die sich auf den Bergrücken oberhalb der Stadt entlangzog.
    Die Menschen, die hier lebten, waren freundlich – auch zu Fremden. Sie redeten laut, lachten laut und sangen laut. Und manchmal stritten sie nicht minder laut. Doch gleichgültig, was sie taten, es geschah mit einer Leidenschaft und Herzlichkeit, die Fygen rasch für sie eingenommen hatte.
    Sie hatte das Treiben auf der Via di San Lorenzo, der pulsierenden Lebensader der Stadt, genossen, wenn des Abends die Hitze wich und Handel getrieben wurde, mit Öl, Wein, Thunfisch, Leder und Seife, und sie hatte sich nicht satt essen können an den schmackhaften Gerichten, die zumeist aus fadenförmigen Mehlspeisen bestanden,
laganelle
genannt, die in Wasser gekocht und mit roten oder grünen, scharf gewürzten Saucen übergossen waren, an aromatischem Käse und an flachen Broten, die noch warm serviert wurden.
    »Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Ihr nicht wünscht, dass Euer Eintreffen in Valencia allzu zeitig bekannt wird«, hatte Eckert augenzwinkernd gesagt, kaum dass sie in Genua angekommen waren. Er war zum Hafen geeilt und hatte ihre Passage unter »Van Bellinghoven« gebucht, Fygens Mädchennamen, und heute nun am frühen Morgen – viel zu bald, wenn es nach Fygen ging – hatten sie sich auf einer venezianischen Karavelle eingeschifft.
    Vom Deck des Schiffes aus blickte Fygen gebannt auf das geschäftige Treiben auf den Kais. Tief sog sie den Geruch des Hafens in sich auf, jene unverwechselbare Mischung aus Salz und Seetang, die sich mit dem Gestank von verderbendem Fisch vereinte. Das Lärmen, das untrennbar zum Leben im Hafen gehörte, drang zu ihr herauf: das Fluchen der Schauerleute, das Ächzen von Tauen und Seilwinden. Übertönt wurde es vom Kreischen der Möwen, die über den Booten kreisten, in der Hoffnung, einer der Fischer würde ihnen ein bequemes Mahl bereiten.
    Derweil schritt das Beladen ihrer Karavelle fort. Eines nach dem anderen verschwanden Fässer und Ballen im dunklen Bauch des Zweimasters. Eben mühten sich zwei Männer mit dem breitbeinigen Gang der Seeleute die Planke zum Schiff hinauf, ein ausladendes Bündel auf den massigen Schultern. Als die Schauerleute an Fygen vorbei dem Abgang zum Frachtraum zustrebten, erkannte sie, dass das Bündel eines der ihren war.
    Fygen führte nur wenige Waren mit sich, um ihre Reise nicht unnötig zu verlangsamen, und vor allem keine sehr kostbaren Güter. Dieses Bündel enthielt schmale Ravensburger Leinwand, die der alte Hans Her für Valencia mitgenommen hatte. Unverkennbar prangte darauf neben dem Handelszeichen der Ravensburger nun ihr eigenes: ein stilisiertes »F«, dessen unteres Ende sich verzweigte nach links in ein »L« und nach rechts in das bekannte, jedoch viel kleinere Kreuz aus Peters Handelszeichen.
    Peters Emblem, ein Kreuz, das über ein Quadrat gelegt war und dieses in der Mitte teilte, machte sie traurig. Zu sehr gemahnte es sie an einen Sarg. Und obschon es unter den Kaufleuten bekannt war, hatte Fygen sich ein neues Handelszeichen zugelegt, als sie die Geschäfte übernommen hatte, auch als Symbol dafür, dass eine neue Zeit angebrochen war.
    Für einen Moment ruhte Fygens Blick auf der dunklen Prägung. Das »L« sah aus wie ein Stiefel. Ja, das ganze Zeichen wirkte wie ein Männlein, das mit großen Schritten vorwärtseilte, unbekannten Gefilden entgegen. Wieso war ihr das bisher noch nicht aufgefallen? Das Zeichen war wirklich passend, dachte Fygen, und ein angeregtes Kribbeln durchströmte sie.
    »Senyora!« Ein breitschultriger Mann hatte die schmale Planke erklommen und verbeugte sich knapp in ihre Richtung. Er war hochgewachsen für einen Südländer, stellte Fygen fest. Seit sie die Alpen überquert hatten, schien es ihr, als seien die Menschen um sie her geschrumpft.

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