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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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Schussgarn auf Spulen wickelte. Wie so oft in den vergangenen Monaten kehrten ihre Gedanken zurück zu jener Nacht in Frankfurt. Als Stephan sie damals in ihre Herberge geleitete, hatte sie lange keine Ruhe finden können. Alsbald war sie aufgestanden und zu ihrem Stand in der Römerhalle gegangen. Am Abend hatte sie bis auf zwei Ballen all ihre Seide verkauft, danach allein ihr Mahl in der Stube des Steinernen Hauses eingenommen und war früh in ihre Kammer hinaufgestiegen.
    Zu vorgerückter Stunde vermeinte sie ein leises Klopfen an der Kammertür zu hören. Ihr Herz setzte einen Moment aus, um dann wie rasend zu pochen. Sie war unfähig, sich zu rühren.
    Noch einmal klopfte es. Doch wie angekettet lag Lisbeth auf ihrer Bettstatt und lauschte angestrengt. Dann endlich, nach einer Weile, die ihr unendlich lang erschien, vermochte sie sich zu erheben. Sie hastete zur Tür und riss sie auf. Vor ihr gähnte der leere dunkle Flur. Stephan – wenn es denn Stephan gewesen war – war wieder gegangen.
    Zitternd vor Aufregung, enttäuscht und erleichtert zugleich, war Lisbeth in ihr Bett zurückgekehrt.
    Wie durch einen Schleier hatte sie den Rest der Messe durchlebt, die verbliebenen Seidenballen verkauft und Mathias Anweisungen für den Abbau des Standes erteilt und war noch vor dem offiziellen Ende der Messe auf dem Wasserweg nach Köln zurückgekehrt.
    In den darauffolgenden Wochen hatte Lisbeth sich in ihre Arbeit gestürzt und versucht zu vergessen. Und wenn das Kind nicht gewesen wäre, hätte die Zeit vielleicht irgendwann die Erinnerung an jene Nacht verblassen lassen.
    Lisbeth war Stephan bewusst aus dem Weg gegangen. Nicht, weil sie Stephan nicht traute, sondern weil sie sich und ihren Gefühlen nicht vertraute. Als wüsste er um ihre Gedanken und respektiere sie, war Stephan zur Weihnachtsfeier im Haus Zur Roten Tür nicht erschienen. Lisbeth war froh darüber gewesen, und sie würde alles daransetzen, Stephan auch weiterhin aus dem Weg zu gehen. Unter gar keinen Umständen wollte sie ihm allein begegnen.
    Lisbeth entfuhr ein tiefer Seufzer. Denn genau das würde heute unausweichlich geschehen. Sosehr sie es auch drehte und wendete – es ließ sich nicht länger hinausschieben. Sie würde heute in die Wolkenburg gehen müssen. Mertyn fand natürlich nicht die Zeit, sie zu begleiten, und wenn Lisbeth es recht überlegte, so war es ihr trotz allem angenehmer, allein zu Stephan zu gehen als in Begleitung ihres Gemahls.
    Vor Tagen schon war der Brief aus Valencia eingetroffen. Wie zu erwarten gewesen war, hatten sich die Herren Regierer Humpis und Hinderofen in der Zentrale der Handelsgesellschaft am Markt zu Ravensburg entschlossen, die Faktorei in der Rheinstadt nicht länger zu betreiben. In ihrem Schreiben bat Fygen Lisbeth nun darum, die Bücher abschließend zu prüfen und Stephan persönlich mit dem nötigen Feingefühl zu sagen, dass er sich um eine andere Stellung bemühen solle. Sie hielt dies für taktvoller, als es ihrem treu dienenden Gehilfen in einem Schreiben mitzuteilen.
    Abermals entfuhr Lisbeth ein Seufzer. Ihre Mutter ahnte ja nicht, um was sie ihre Tochter bat.
    »Bringen wir es hinter uns«, sagte sie halblaut und erhob sich.
    Als Lisbeth die Wolkenburg erreichte, wandte sie kurz den Kopf und blickte hinüber zur gegenüberliegenden Seite der Straße. Die seltsame Alte saß vor ihrem Verschlag auf einer umgedrehten Kiste und nickte ihr lächelnd zu. Hastig trat Lisbeth in das Torhaus.
    In der dämmrigen Eingangshalle hielt sie inne und holte tief Luft, um sich Mut zu machen. Dann drückte sie beherzt die Klinke hinab und trat in Stephans Kontor.
    Deutlich stand ihrem Schwager die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Eine Mischung aus Freude und Skepsis.
    War es nur Erstaunen über ihren unerwarteten Besuch oder auch der Anblick ihrer offensichtlichen Schwangerschaft, fragte Lisbeth sich, denn einen Moment lang starrte Stephan verunsichert auf ihren Bauch, bevor er sich hastig aus seinem Stuhl erhob und ihr einen Sessel zurechtrückte.
    Beides vermutlich, dachte Lisbeth, obzwar er sicherlich bereits erfahren hatte, dass sie gesegneter Umstände war. Hatte auch er sich darüber Gedanken gemacht, ob er vielleicht der Vater des Kindes war?
    Energisch schob Lisbeth den Gedanken beiseite. Sie war nicht hier, um mit ihm über ihr Kind zu sprechen. Und vor allem nicht über das, was zwischen ihnen in jener Nacht geschehen war. »Stephan, ich habe mit dir zu reden«, sagte sie ernst und ließ

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