Die Tochter der Seidenweberin
begegnete. Immer noch kümmerten ihn die Angelegenheiten des Rates und der Gaffeln, doch inzwischen verbrachte er so manchen Abend in ihrer Gesellschaft, anstatt sich bis spät in seinem Kontor zu vergraben.
Und so war schließlich das gekommen, was Lisbeth sich einst so sehnsüchtig gewünscht hatte: Sie war wieder in Umständen. Man sah es ihr noch nicht deutlich an, doch ihre Wangen waren voller geworden, und sie band die Schnürung ihres Kleides schon ein gutes Stück lockerer.
»Wie viel von der Seide aus Valencia willst du haben?«, unterbrach Mertyn ihre Gedanken.
Vor wenigen Tagen war wieder eine Rohseidenlieferung aus Valencia eingetroffen und wartete nun in einem der Lagerhäuser am Rhein darauf, verkauft zu werden.
Die Seide aus Valencia! Genau das war es, dachte Lisbeth. Warum war sie nicht eher darauf gekommen? »Alles!«, entschied sie und strahlte Mertyn an.
»Alles? Es sind fünftausend Pfund! Bist du dir sicher?«, fragte Mertyn, die Stirn zweifelnd in Falten gelegt.
»Ganz sicher!« Lisbeth sprang auf, und vor den Augen der schmunzelnden Weberinnen schloss sie ihren Gemahl voller Überschwang in die Arme, um nur wenig später ihre Lehrmädchen in alle Richtungen davonzuschicken. Sie wünschte so bald wie möglich die Seidmacherinnen zu sprechen, die für sie im Verlag webten.
Ida Rummels war die Erste, die ihrer Bitte Folge leistete. Lisbeth empfing sie in ihrer Schreibstube. »Ich möchte Euch ein Geschäft vorschlagen.« Lisbeth kam sofort zur Sache, kaum dass Ida auf der Kante ihres Stuhles Platz genommen hatte. »Was haltet Ihr davon, nicht länger für mich arbeiten zu müssen?«
Erschrecken zeichnete sich auf dem rundlichen Gesicht der Weberin ab, daher fuhr Lisbeth hastig fort: »Nein, versteht mich nicht falsch. Ich schätze Eure Arbeit.« Beruhigend schüttelte sie den Kopf, während Ida unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, den Blick wachsam auf ihre Brotherrin gerichtet.
»Hört Euch meinen Vorschlag an«, sagte Lisbeth. »Ich gebe Euch fünf Zentner Rohseide aus Valencia, die beste, die es gibt. Der Zentner kostet um die dreihundert Gulden. Ich gebe sie Euch für zweihundertfünfzig, zu dem Preis, zu dem auch ich sie bekomme. Ihr könnt sie spinnen lassen und verweben, auf Eure eigene Rechnung. Und erst in einem halben Jahr, wenn Ihr die Seidenstoffe längst verkauft habt, bezahlt Ihr mir die Rohseide.« Kurz überschlug Lisbeth die Monate. »Am Martinstag«, fügte sie hinzu. »Was haltet Ihr davon?« Aufmerksam blickte sie Ida an und harrte deren Antwort.
»Es klingt wie ein sehr gutes Angebot«, sagte Ida vorsichtig. Dann verfiel sie für eine Weile in Schweigen und nagte an ihrer breiten Unterlippe. Lisbeth konnte förmlich sehen, wie es unter der weißen Haube der Weberin arbeitete.
»Was ich nicht verstehe, ist, was Ihr davon habt«, sagte Ida schließlich. »Mit fünf Zentnern habe ich ein halbes Jahr zu tun«, überlegte sie laut. »Und wenn ich auf eigene Rechnung arbeite, kann ich nicht für Euch weben. Euch fehlt eine Weberin. Was also habt Ihr davon?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Nichts«, entgegnete Lisbeth. In der Tat würde es eine deutliche Einbuße bedeuten, wenn weniger Weberinnen für sie arbeiteten. Doch Mertyns Geschäfte florierten ausnehmend gut. Da würde es nicht schaden, wenn sie weniger verdiente. Überdies hatte sie nun ein Kind, das nach ihrer Aufmerksamkeit verlangte, und bald würde sie ein zweites bekommen.
»Nichts«, wiederholte sie. »Ich habe nichts davon. Außer, dass ich dafür sorge, dass es auf lange Sicht eine Seidmacherin mehr gibt, die auf eigenen Beinen stehen kann und nicht mehr gezwungen ist, für eine Verlegerin zu arbeiten. Wenn Ihr die Seide verwebt und mir das Geld zurückgezahlt habt, bin ich bereit, Euch zu den gleichen Bedingungen abermals Seide zur Verfügung zu stellen. Und zwar so oft, wie Ihr es benötigt, bis Ihr ohne meine Hilfe auskommt.«
Ungläubig starrte Ida sie an. »Ihr seid ein guter Mensch, Lisbeth Ime Hofe«, brachte sie hervor. »Danke Euch tausendfach! Natürlich nehme ich Euer großzügiges Angebot an!«
»Euer Dank gilt nicht mir, sondern dem Andenken der Frau Zur Roten Tür. Es ist ihr Wille und ihr Geld, die das möglich machen«, widersprach Lisbeth. Als Ida ihre Schreibstube verlassen hatte, lehnte sie sich zufrieden in ihrem Stuhl zurück. Der Anfang war gemacht.
Ähnlich und mit gleichem Erfolg wie das Gespräch mit Ida Rummels verliefen auch die Unterredungen mit den drei anderen
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