Die Tochter der Seidenweberin
früh bis spät war sie damit beschäftigt, die nunmehr sechs angestellten Seidmacherinnen, sechs Lehrmädchen und die vier Hilfskräfte zur Arbeit anzuhalten und darüber hinaus die Weberinnen, die für sie in ihren eigenen Werkstätten webten, mit Garn zu versorgen und die Qualität ihrer Gewebe zu überwachen.
Vielleicht wäre es anders, wenn ich Kinder hätte, dachte Lisbeth niedergeschlagen.
»Lisbeth, meine Liebe! Nehmt doch noch eines von den Marzipanküchlein. Oder ein Stück Reisgebäck mit Zimt?« Brigitta van Berchem riss sie aus ihren trüben Gedanken.
Lisbeth dankte ihrer Gastgeberin höflich und bediente sich von der Platte mit feinem Gebäck, obwohl sie keinen rechten Appetit verspürte.
Es war behaglich in der Stube der Berchem-Schwestern. Im Kamin bleckte ein wärmendes Feuer. Öllichter erhellten die Stube, denn obwohl der Vormittag bereits vorangeschritten war, schien es heute nicht recht tagen zu wollen. Der starke Würzwein, ein guter, wie Lisbeth bemerkte, gesüßt und mit Zimt, Nelken und Ingwer abgeschmeckt, hatte die Stimmung der Damen gehoben und ihnen eine kleidsame Röte auf die Wangen gezaubert.
Eine Zunftversammlung war das nicht, doch man bekam leicht diesen Eindruck, denn bei dem Kränzchen, zu dem Brigitta und Gunda van Berchem geladen hatten, waren nur Seidmacherinnen zugegen. Wenn auch bei weitem nicht alle, wie Lisbeth feststellte. Nur die Erfolgreichen waren geladen, und keine unter ihnen, die weniger als vier Lehrtöchter und darüber hinaus ausgelernte Seidenweberinnen und Hilfskräfte beschäftigte.
Ein Treffen des Zunftvorstandes war diese Zusammenkunft jedoch auch nicht. Abgesehen davon, dass sie dafür zu viele waren und sich keine die Mühe machte, Protokoll zu führen, gab es keinen gewählten Zunftvorstand mehr. Aus unerfindlichen Gründen hatte sich Anfang des vergangenen Jahres kein Termin für eine Neuwahl des Vorstandes finden lassen. Zunächst war einer nach dem anderen aus dem alten Vorstand erkrankt, dann wieder weilten die meisten Zunftmitglieder in Frankfurt auf der Messe. Wieder und wieder war die Wahl verschoben worden, bis man es schließlich aufgegeben hatte.
»Wozu sollte man sich auch die Mühe einer Wahl machen?«, hatte Brigitta van Berchem schließlich bemerkt. »Es sind ohnehin immer dieselben, die zu Zunftmeistern gewählt werden. Überdies sehen wir uns ja laufend. Die wenigen Zunftangelegenheiten können wir auch dann besprechen. Dafür muss man doch keine besonderen Treffen veranstalten …«
So war Brigitta mit schöner Selbstverständlichkeit einfach darin fortgefahren, sich um die Geschicke der Zunft zu kümmern. Und da sie dies kaum schlechter oder besser tat als andere vor ihr, hatte sich niemand daran gestört – es war ohnehin eine Pflicht, die Zeit kostete und eine tüchtige Seidmacherin daran hinderte, sich um ihr eigenes Geschäft zu kümmern. Nur vereinzelt hatte es Stimmen gegeben, die mahnten, das wäre nicht rechtens, doch die waren alsbald verstummt.
Die Seidmacherinnen in Brigittas Stube hatten sich in zwei Grüppchen zusammengefunden, die sich im Alter deutlich unterschieden. Während sich die Jüngeren, Veronika van Herten, Mechthild van der Sar und Katharina Loubach, alle wie Lisbeth Anfang der zwanzig, um den Tisch mit süßen Köstlichkeiten scharten, drängten die Älteren sich vor dem Kamin zusammen, die Hände um ihre Becher mit wärmendem Würzwein geschlungen. Frieda Medman, Mettel van Hielden und Adelheid Liblar, die Schwiegertochter des gewichtigen Johann Liblar, waren in den Vierzigern, Genovefa van Wychtericht hatte gar die fünfzig überschritten.
»Ein paar arme Wichter haben den Rat gebeten, Parger herstellen zu dürfen – stellt Euch das vor!«, erregte sich die Gastgeberin, an Lisbeth gewandt, doch laut genug, um die Umstehenden in das Gespräch mit einzubeziehen.
Lisbeth nickte. Sie hatte von dem Ansinnen der ärmeren Seidmacherinnen gehört, einen halbseidenen Stoff weben zu dürfen, weil es ihnen an Geld mangelte, ausschließlich Seide zu verweben. Sie hatte Verständnis für das Ansinnen, doch bevor sie diese Ansicht äußern konnte, zischte Mechthild van der Sar: »Die sollen nur nicht rumjammern! Mit ihrer Faulheit sind sie ja selbst schuld daran, wenn sie kein Geld für Rohseide haben!«
Mechthild, die Schwiegertochter der verkniffenen Gertrud van der Sar, hätte mit ihrem dürren Hals, der langen Nase und ihrer stets säuerlichen Miene ohne weiteres als deren leibliche Tochter durchgehen
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