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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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feststellte. Die meisten Mitreisenden starrten müde auf ihre Füße, und ohnehin zog man bei diesem Wetter lieber den Kopf unter die Hauben.
    Doch ganz so unrecht hatte Clairgin mit ihrer Befürchtung nicht. Es waren zwar nicht ungezählte Augenpaare, die ihr gefolgt waren, als sie das Haus verließ, sondern ein einziges, ein grau-grünes. Doch das war ausreichend. Denn es gehörte Jacoba.
    Seit ein paar Tagen schon hatte Clairgins mittlerweile ältestes Lehrmädchen ihre Lehrherrin aufmerksam beobachtet, wobei es ihr weniger darum ging, diese bei einer Missetat zu ertappen, als vielmehr darum, eine günstige Gelegenheit abzupassen, ihrerseits von Clairgin unbemerkt entwischen zu können.
    Die Verstohlenheit, mit der Clairgin ein schweres Bündel selbst geschultert und das Haus verlassen hatte, hatte Jacoba aufmerken lassen, und so war sie ihrer Lehrherrin in sicherem Abstand zum Rheinufer hinabgefolgt.
    Als sie nun sah, wie Clairgin auf die Schalde stieg, spannte ein listiges Lächeln ihre schmalen Lippen. Das kam ihr sehr zupass, denn was sie vorhatte, würde ein wenig Zeit in Anspruch nehmen. Und jetzt konnte sie sicher sein, dass es eine geraume Weile dauern würde, bis ihre Lehrherrin zurückkehren würde. Beschwingt machte sie sich auf den Weg, um nur kurz darauf einen schweren Klopfer gegen eine rote Tür zu schlagen.
    »Aber warum willst du zu mir kommen?« Lisbeth blickte Jacoba überrascht in das frisch gewaschene Gesicht. »Wenn ich dich recht verstanden habe, hast du nur noch ein halbes Jahr zu lernen.«
    Jacoba schaute zu Boden, und Lisbeth erinnerte sich an die Geschichte, die ihre Mutter und Katryn so oft erzählt hatten. Es kam ihr so vor, als sei sie dabei gewesen, als der einflussreiche Herr Lützenkirchen, damals angesehener Vorstand im Seidamt, das junge Lehrmädchen Fygen aus den Fängen ihrer grausamen Lehrherrin Mettel befreit hatte. Freilich hatte Mettel ihre Nichte schuften lassen bis zum Umfallen, sie gekniffen, geschlagen und ihr kaum zu essen gegeben. Von den Schikanen, die Fygen von Mettels missgünstiger Tochter Grete zu erdulden gehabt hatte, ganz zu schweigen.
    Doch das Mädchen, das hier vor ihr stand, war weder schlecht genährt, noch wies es Anzeichen von Misshandlungen auf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Lehrherrin dich schlägt oder dir nicht genug zu essen gibt«, sagte Lisbeth streng.
    »Nein, das ist es nicht …«, druckste Jacoba herum.
    »Sondern?«, forschte Lisbeth nach.
    »Nun, äh … also …«
    »Also was?« Lisbeth verlor allmählich die Geduld. Sie hatte Dringlicheres zu erledigen, als sich mit den Animositäten eines Lehrmädchens herumzuschlagen, dass nicht einmal ihr eigenes war. In der Werkstatt wartete der Färbergeselle darauf, dass sie seine Arbeit überprüfte und ihm den Lohn für seinen Herrn ausbezahlte.
    »Es ist schon etwas anderes, bei Euch zu lernen, oder bei Frieda Medman oder bei den Berchem-Schwestern. Ihr habt einen besseren Ruf. Eure Lehrmädchen haben die hübscheren Kleider, bekommen besseres Essen und wohnen in schöneren Häusern …«
    Ob dieser Undankbarkeit stieg Lisbeth die Zornesröte ins Gesicht. Als Jacoba, kurz nachdem sie zu Clairgin gekommen war, schwer erkrankt war, hatte ihre Lehrherrin nicht geknausert, sondern die Kosten für ihre Behandlung übernommen und sie mit eigener Hand gesund gepflegt.
    Und jetzt wollte Jacoba ihrer Lehrherrin diese Großzügigkeit vergelten, indem sie sie vor der Zeit verließ. Und das aus so schnöden Gründen wie hübscheren Kleidern und einem Stück Selchfleisch mehr in der Woche. Lisbeth schnaubte leise durch die Nase.
    Es wäre ein Verlust für Clairgin, wenn Jacoba sie vor der Zeit verließe. Schließlich war die gute Arbeit, die ein Mädchen im letzten Lehrjahr für ihre Lehrherrin leistete, der Lohn für die gute Ausbildung und für alles, was eine Lehrherrin in das Mädchen investiert hatte. Von den besonderen Kosten, die Clairgin mit Jacoba gehabt hatte, einmal abgesehen. Es wäre einfach ungerecht, wenn eine andere Lehrherrin die Früchte erntete, die Clairgin gesät hatte.
    Barsch beschied sie Jacoba: »Nein, zu mir kannst du nicht kommen.« Wenn das Mädchen unbedingt die Lehrstelle wechseln wollte, so konnte man das zwar kaum verhindern, doch Lisbeth würde dem sicher keinen Vorschub leisten.
    Jacoba zuckte mit den Schultern und knickste nachlässig. Wenn Frau Ime Hofe sie nicht wollte, so war das nicht weiter schlimm. Dann würde sie eben zu den Berchem-Schwestern gehen.

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