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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sind müde«, sagte Nijma.
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    »Ja, sehr.«
    »Es wird noch eine Weile dauern, bis Dorje zurück ist. Wollen Sie sich nicht etwas hinlegen?«
    Sie brachte Decken, Kissen, einen Teppich, der nach Talg roch.
    Sie breitete alles neben der Herdstelle aus; die Müdigkeit überfiel mich mit solcher Heftigkeit, dass ich, noch halb sitzend, einschlummerte. Ich fühlte Nijmas Hände, die behutsam meinen Nacken hielten, ein Kissen unter meinen Kopf schoben. Mit leisen Worten zog sie die staubige Decke über mich. Ich rollte mich auf die Seite und schlief sofort ein.
    Plötzlich schlug ich die Augen auf. Irgendein Geräusch hatte mich geweckt. Ich blinzelte, streckte mich. Aus dem kleinen Fenster drang Abendlicht. Ich sah auf die Armbanduhr. Ich hatte eine Stunde geschlafen und fühlte mich nahezu wohl. Das war typisch für mich; ich konnte überall gut schlafen. Ich machte die Augen zu – weg war ich, und im Schlaf wurde alles besser.
    Im Innenhof quietschten die Schweinchen. Ich hörte Stimmen; Dorje und seine Schwester warfen sich Scherzworte zu. Das Knattern seines Motorrades war es, das mich geweckt hatte. Ich spürte einen Stich im Herzen. Atan war nicht gekommen, oder Dorje hatte ihn nicht gefunden. Oder er wollte nicht kommen; ein Yak hatte Koliken oder ein Pferd war in ein Loch gestolpert. Hör auf, Tara! Wenn du wütend wirst, kannst du nicht mehr klar denken. Also gut. Ich würde mir jetzt eine Herberge suchen, meinetwegen eine chinesische. Ich wollte diesen Leuten nicht mehr zu Last fallen.
    Morgen würde mir schon etwas einfallen. Ich setzte mich auf, zog Kamm und Taschenspiegel hervor, kämmte mein zerzaustes Haar und steckte es mit einer Spange fest. Ich wusch mein Gesicht über dem Wasserbehälter, spülte mir den Mund aus. Ich zog einen warmen Pullover an, schlüpfte in die Daunenjacke. In Kham wurde es abends sehr kalt. Ich tat alle Dinge behutsam, bewegte mich leise, um die Kranke nicht zu wecken, die ruhig atmete. Ohne Hast rollte ich die Decken zusammen, stapelte die Kissen auf; ich hatte alle Zeit der Welt. Dann schlüpfte ich in meine Turnschuhe und ging mit
    ‘dem Rucksack nach unten. Draußen war die Welt in dunkles Gold getaucht; die letzten Sonnenstrahlen brachen aus rosa Quellwolken; die Lehmmauern leuchteten, als hätten sie Licht eingesaugt. Ein Schweinchen wälzte sich munter im Staub, und auf der Straße plärrte ein Kofferradio irgendeine chinesische Melodie. Dorje lehnte am Motorrad, rauchte eine seiner starken Zigaretten. Als ich durch die 208
    Tür trat, riss er vergnügt seine Mütze vom Kopf und grinste wie ein Schelm.
    »Ich habe mit Atan eine Wette gemacht, und er hat das Rennen verloren.«
    Ich starrte ihn an, als wäre es ein Witz, den er sich ausgedacht hatte, damit ich besser wach würde. Er gab der Maschine triumphierend einen Klaps.
    »Er hat ein gutes Pferd, aber kein Pferd ist so schnell wie mein Motorrad!«
    Nijma, die lachend die Wäsche abnahm, hob plötzlich die Hand.
    Als das Kofferradio für Sekunden verstummte, vernahm ich ein Geräusch, es hörte sich an wie ein fernes, lebendiges Klingeln von Glöckchen. Mein Herz stockte, dann pochte es so heftig, dass es mich beinahe erstickte. Ich zog den Kopf ein, trat unter den Torbogen hindurch nach draußen. Die Sonne sank; der Himmel flimmerte aprikosenfarbig. Vereinzelte Wolken, leicht wie Flaum, trieben im Wind dahin. Fast unbeweglich schwebten die Steppenadler hoch über den Wellblechdächern, auf der Suche nach einer letzten Beute vor der einbrechenden Nacht. Da hörte ich Pferdehufe klappern, und aus den aufsteigenden Lichtschleiern löste sich die Gestalt eines Reiters. Er glich einem Traumbild; meine Kehle wurde eng, als wäre sie von Tränen voll. Für einen Augenblick, einen kurzen Augenblick nur, verloren die abgebröckelten Mauern, die mit Teerpappe verklebten Fenster, das rostige Abwasserrohr ihre Hässlichkeit; die Magie des Lichtes bewirkte, dass sich das Straßenbild in Zeitlupe aufzusplittern schien, eine Wandlung durchlief. Und durch diesen Raum der Illusionen, der absoluten Sinnestäuschung, näherte sich, in orangefarbenes Licht getaucht, der Reiter. Atans Haltung war gelöst, elastisch; sein lockiges Haar unter dem Filzhut der Nomaden wehte im Wind. Weil es Sommer war, trug er eine dunkelblaue Tschuba aus grobgewobener Rohseide. Dazu Jeans, kniehohe Schaftstiefel und eine Jacke aus Lammfell, abgenutzt und an Saum und Kragen bunt bestickt. Er ritt einen Rappen. Rongpa? dachte ich. Wie war das möglich? Aus

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