Die Tochter der Tibeterin
welche hier zu sehen, und hatte Angst, dass sie Dorje an seiner flatternden Robe und mich an den Beinen packten! Aber die Hirten, die sich vor Lachen krümmten, stießen gellende Pfiffe aus, worauf die Hunde knurrend und in weitem Bogen abschwenkten.
»Gonkgar-Sha!«, brüllte Dorje plötzlich über seine Schulter hinweg.
Was zuerst in Sicht kam, war eine breite, teilweise asphaltierte Straße, und noch während ich mich wunderte, warum die gut ausgebaute Straße zu dieser unbedeutenden Ortschaft führte, wurde mir von selbst die Antwort klar: Die Han-Chinesen hatten in Gonkgar-Sha ein riesiges Sägewerk errichtet. Tausende von geschlagenen Stämmen wurden hier gelagert, warteten auf den Weitertransport nach China. »Die Straße der Dämonen!«, dachte ich bitter, als Dorje über den Asphalt brauste. Das Dorf selbst bestand aus einer Anzahl Steinhäuser, einstöckig zumeist, mit dicken Mauern aus gehauenen Gneisplatten. Gonkgar-Sha war kein ärmliches Dorf, doch auf seltsame Art verwahrlost. Verblichene »Windreiter«
flatterten an hohen Stangen, an vielen Stellen erhoben sich Anhäufungen weißer Gebetssteine. Doch die Dorfmitte war von den Plattenbauten der Chinesen entstellt; es gab Lebensmittelläden, jede Menge Imbissstuben und die üblichen, als Teehäuser getarnten Bordelle. Die Straßen waren schmutzig, zwischen den Steinen glitzerten Scherben, rostete Eisenschrott. Dorje hielt vor einem kleinen Haus aus verwittertem Gestein, senkte den Stützfuß und stellte den Motor ab.
»Wir sind da.«
Eine Frau schaute aus einer Tür, dann eine zweite. Menschen, alte und junge, liefen herbei, neugierig und freundlich. Alle trugen billige Arbeitskleidung und ausgetretene Turnschuhe. Zerlumpte Kinder strahlten mich an, die größeren liefen uns schreiend entgegen. Dorje begrüßte und segnete alle. Auch ich wurde freudig willkommen geheißen, von unbekannten Frauen umarmt. Dann stieß Dorje eine morsche Holztür auf, schob sein Motorrad in den sandigen Innenhof. Ich bückte mich unter dem niedrigen Torbogen 204
und folgte ihm. An der niedrigen Steinwand lehnten ein paar staubige Reifen. Zerschlissene Kleidungsstücke, sorgfältig geflickt und ausgebessert, hingen an einem Eisendraht. Ich sah einige Töpfe und Schüsseln aus Plastik, einen großen Stapel Feuerholz und zwei kleine schwarze Schweinchen. Nijma, Dorjes Schwester, begrüßte mich mit der üblichen, selbstverständlichen Herzlichkeit. Auf dem Land dienen die unteren Räume als Vorratskammer, Werkzeugraum und Stall für das Kleinvieh. Eine schmale, hölzerne Treppe führte in den ersten Stock. Durch die rußgeschwärzte Küche gelangten wir in einen kleinen Wohnraum. Es roch nach Wacholderrauch, Talg und Butter. Eine alte Frau lag zusammengekrümmt auf einem Stapel Kissen und Decken; Dorje kniete neben ihr nieder, legte ihr eine gelbe Kata um den Hals; die alte Frau umarmte ihn weinend. Sie flüsterten eine kurze Zeit miteinander, während Nijma mich aus großen, braunen Augen traurig anblickte.
»Sie hat schreckliches Bauchweh. Schon seit Tagen. Es wird nicht besser.«
Dorje erhob sich.
»Ich habe Amla gesagt, wer Sie sind, Doktorin.«
Er ging mit hängenden Schultern hinaus; ich hörte ihn in der Küche mit Nijma leise reden. Ich trat an das Lager der Kranken. Ich hatte nur wenig Instrumente dabei, und an Medikamenten nur das nötigste. Die Haut der Frau war gelblich, ihr Blick trübe. Sie schien ängstlich und verstört. Ich beruhigte sie mit einem Lächeln.
»Kannst du etwas für mich tun?«, keuchte sie. »Ich habe solche Schmerzen!«
Ich fühlte zuerst ihr Handgelenk. Kurzer Atem. Harter, schneller Pulsschlag.
»Ich muss Sie untersuchen«, sagte ich.
Sie sah erschrocken aus.
»Vielleicht ekeln Sie sich vor mir. Ich bin schmutzig.«
»Das ist doch kein Grund. Ich wasche mich auch nicht jeden Tag.«
»Sie sehen aber gewaschen aus.«
Ich lachte, und sie lachte auch. Das bewirkte, dass sie sich entspannte. Ich entblößte ihren schmächtigen Oberkörper, befühlte die Stelle, wo sie angeblich Schmerzen hatte, drückte die Finger behutsam in ihre Bauchdecke. Sobald sie etwas zu sich nahm, wurde ihr übel, erklärte die alte Frau stockend. Die Schmerzen nahmen dann zu, und sie erbrach sich. Sie konnte nur Flüssigkeit zu sich 205
nehmen, und manchmal erbrach sie auch diese. Wie lange schon?
Oh, schon lange, seit vielen Tagen. Ihr Körper war ganz ausgetrocknet. Als ich mit zwei Fingern ihre Haut zusammenpresste, blieb sie steif wie dünnes
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