Die Tochter der Tibeterin
hatte der verrückte Kerl gesagt. Das konnte er tatsächlich. Im Moto-Cross wäre er auf Platz 1 gelandet.
Inzwischen klammerte ich mich an ihm fest und sah die Berge tanzen. Die alte Maschine ratterte und bebte. Jedes Mal, wenn die Räder über ein Schlagloch krachten, sah ich im Geist das Motorrad explodieren. Dass dieses verlotterte Monstrum eine solche Fahrt aushielt, grenzte an ein Wunder.
Schon war Lithang mit seinem Elektrizitätswerk, seiner Zementfabrik und seinen Telegrafenmasten hinter den Hügeln verschwunden. Die Wege – Pfade eigentlich – waren gewunden und schmal, von Menschen- und Tierfüßen seit Generationen festgetrampelt. Hopsend, kurvend, knatternd ging es weiter über Stock und Stein, bis wir endlich an einer windgeschützten Stelle Halt machten und ich mit Argwohn meine schmerzenden Knochen betastete. Der junge Mann bot mir ein brotähnliches Gebäck an, dazu Cola aus der Dose. Er zündete eine Zigarette an (durften Mönche eigentlich rauchen?) und ich erfuhr einiges über ihn. Er stammte aus einem Dorf, das Gonkgar-Sha hieß, und war einst Mechaniker gewesen, ein Beruf, mit dem er durch seinen Eintritt ins Kloster Schluss gemacht hatte. Aber seine Leidenschaft für alles, was einen Motor und zwei Räder hatte, war geblieben. Am liebsten nahm er alte Motorräder auseinander und baute neue daraus. Das, auf dem wir gerade über das Hochland flitzten, war bereits seine vierte Kreation und – ließ er mich stolz wissen – eindeutig die schnellste.
»Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich den Entschluss fasste, ins Kloster zu gehen. Das war, als meine junge Schwester im Krankenhaus irgendeine Spritze bekam und ihr ungeborenes Kind verlor. Und inzwischen hing ich in einer Garage herum, die einem Chinesen gehörte!«
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»Ich verstehe.«
Dorje nickte finster, die Kippe im Mundwinkel.
»Ich hielt mich nie für einen Angehörigen der chinesischen Nation. Aber mein Land war ein Teil von China, ob es mir gefiel oder nicht. Es gab jedoch einen Ort, wo der Mensch nicht einer Produktionseinheit gehörte, sondern im Mittelpunkt der Welt stand.
Wenn ich meinen Glauben nicht hätte, würde ich jetzt Hundefleisch essen.«
Er war vor fünf Jahren ins Kloster eingetreten, hatte seinen ursprünglichen Namen Osher abgelegt. Er nannte sich fortan Dorje, was »Donnerkeil« bedeutet, studierte die alten Schriften und lebte sehr erfüllt.
»Ich wusste sofort, hier ist mein Platz. Alles, was man zum Leben braucht, habe ich. Dazu kommt, dass ich gut mit Werkzeugen umgehen kann und ständig Arbeit habe, weil die meisten Mönche so ungeschickt sind. Eigentlich gehört das Motorrad dem Kloster. Aber die Mönche wissen ja nicht, wie man die Kupplung schaltet!«
Dorje kicherte, obwohl ihm der Sinn nicht nach Lachen stand.
Seine Mutter war seit Wochen krank. Die tibetischen Mittel halfen nicht mehr. Aber sie weigerte sich hartnäckig, von einem chinesischen Arzt in Lithang behandelt zu werden.
»Die chinesischen Spitäler heißen bei uns Schlachthäuser. Haben Sie das gewusst?«
»Ja, man hat mir davon erzählt.«
Ich sagte Dorje, dass ich Ärztin sei; als Entgelt für die Fahrt schlug ich vor, seine Mutter zu untersuchen. Dorje schnippte die Kippe weg und tanzte vor Freude von einem Fuß auf den anderen, wie ein Zwölfjähriger.
»Vorwärts!«, rief er kriegerisch. »Wir sind gleich da!«
Die leeren Coladosen schmetterte er über den Hang; ich sah bekümmert weg. Wir bestiegen das Motorrad, und Dorje gab Gas.
Sanfte Schatten erfüllten die Hügel, die Berge glänzten smaragdgrün, und Vögel flatterten in aufgeregten Schwärmen davon. Das Fahrzeug hopste von Kuppel zu Kuppel, von Loch zu Loch, prallte krachend und scheppernd auf lockere Steine. Ich kam mir vor wie ein Cowgirl auf einem wildgewordenen Mustang. Ich krallte mich am Fahrer fest, während mich das dahinrasende Motorrad in jähem Wechsel auf und nieder schleuderte. Hier und da klebten Dörfer an den Hängen; dünne, blaue Rauchfahnen stiegen auf. Ein paar Männer lachten und winkten; ihr Haar unter dem grünen Filzhut war lang und lockig oder 203
am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Eine kleine Gruppe Yaks zog gemächlich vorbei; ihr langes, zottiges Fell wehte im Wind. Die großen Tiergesichter kamen mir ruhig und geheimnisvoll vor. Nur die Hunde sprangen uns bösartig entgegen, ohne zu bellen, aber mit gefletschten Zähnen. Es waren langhaarige Dho-Khys, die die Nomaden früher zum Schutz ihrer Herden züchteten. Ich war erstaunt,
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