Die Tochter der Tibeterin
Seidenpapier – ein Zeichen, das mir Sorgen machte.
»Tut es weh?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Sag mir, Doktorin, ist es schlimm?«
»Keine schöne Sache, und schmerzhaft. Aber Sie werden wieder gesund sein.«
Ein Tumor war es nicht, wie ich zuerst befürchtet hatte, sondern eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Zum Glück hatte ich ein Medikament dabei, das ihr helfen konnte. Ich gab ihr zwei Tabletten zu schlucken und erklärte Nijma, dass ihre Mutter große Mengen abgekochtes Wasser trinken müsse. Auch später, wenn sie sich erholt hätte, dürfte sie keine schweren Speisen zu sich nehmen. Die Freude und Dankbarkeit waren groß. Nijma hatte Tränen in den Augen. Sie löste ein großes Stück Dributter (Dri ist der Name für die Yakkuh) im Tee auf und schüttelte lange die Thermoskanne, bevor sie die Tassen füllte. Der Tee war fast kochend heiß, stark gesalzen und wirklich gut. Dorje trank mit gierigen, hastigen Zügen. Man konnte sehen, wie erleichtert er war. Ich solle bei ihnen übernachten, schlug er vor. Aber ich erklärte Dorje, dass ich zu Atan musste und es eilig hatte. Sehr eilig. Ein Wortwechsel zwischen den Geschwistern folgte. Der Dialekt war mir fremd. Dabei sprachen sie so zungenfertig und geschwind, als läsen sie aus einem Buch vor.
Schließlich wurden sie sich einig. Dorje leerte seine dritte Tasse, schmatzte und wischte sich über den Mund.
»Warten Sie hier, Doktorin, und ruhen Sie sich aus. Ich fahre sofort los und sage Shelos Sohn, dass Sie da sind. Es ist nur ein kurzer Weg, wenn auch ein schlechter, und in zwei Stunden ist Nacht.«
Ich empfand ein seltsames, traumhaftes Gefühl. Dorje war ungefähr fünfundzwanzig, und er sprach den Namen Shelos aus, als ob er sie gekannt hätte. Und weder Nijma noch ihre Mutter zeigten dabei das geringste Erstaunen. Etwas war hier geschehen, vor langer Zeit; etwas, das ihrer Erinnerung vertraut war. Wenn sie verzweifelten, hörten sie Shelo singen, und es klang wie ein wahr gewordenes Versprechen. Die Freiheit war schon da, jeder trug sie im Herzen wie in einer Schatulle. Wer traurig oder mutlos war, holte 206
die Hoffnung wie einen Türkis hervor und ließ sie in der Sonne glänzen. Nein, wahrhaftig, dachte ich, Kham war kein guter Ort für die Chinesen! Kham war ein Ort der starken Seelen; die Verstorbenen wachten über die Lebenden, schenkten ihnen Kraft und Trost. Shelos Erinnerung war verwoben mit dem Rauschen des Windes, mit den weißen Stürmen unter dem schwarzen Himmel, mit den schwebenden Steppenadlern und den glasklaren Wildbächen.
Shelos Gesang trug auf ihren Schwingen alle jene, die aufgestiegen waren aus den Abgründen des Todes und wie Sterne aufgingen am abendlichen Himmel über den Hochweiden Khams, fern im Osten, im Herzen des Schneelandes…
Ich lächelte Dorje zu.
»Gute Idee. Vielen Dank, Dorje. Ja, ich bin wirklich müde.«
Er machte vergnügt das V-Zeichen, stülpte sich eine rote Wollmütze über den kahlgeschorenen Schädel und stapfte eilig die Treppe hinunter. Er rollte die Maschine aus dem Innenhof, gab draußen auf der Straße kräftig Gas, entfernte sich wie eine heulende Rakete. Nijma lächelte mir zu und machte sich am Herd zu schaffen.
Sie kochte zuerst eine große Menge Wasser; ich gab der alten Frau zu trinken. Das Mittel wirkte. Nach einer Weile flüsterte sie glücklich:
»Ich habe keine Schmerzen mehr. Jetzt werde ich gut schlafen!«
Während die alte Frau einschlummerte, bewirtete mich Nijma mit einer Gerstensuppe und einem sehr schmackhaften Gebäck aus Bierteig und süß geröstetem Weizen. Sie ließ mich nicht aus den Augen, und bei jedem Bissen, jedem Schluck nickte sie glücklich mit dem Kopf. Unser Gespräch verlief leise und höflich; wir sprachen über die Krankheit der Mutter, ich gab ihr Ratschläge, die sie zu beachten versprach. Von dem abgetriebenen Kind sprachen wir nicht. Ich war müde, hatte lahme Knie; nach der Fahrt taten mir sämtliche Knochen weh. Ich war eine verweichlichte Flachland-Tibeterin, erschöpft und zu nichts mehr zu gebrauchen. Traurig, aber wahr. Alles war mir zu anstrengend, sogar die Höhenluft. Und Atan?
Sollte ich ihn wiedersehen? Noch heute? Unmöglich! Nicht auszudenken. Seit neun Jahren habe ich dich nicht gesehen, Atan, und träume immer noch von dir. Findest du das nicht idiotisch?
Wieviele Frauen hast du inzwischen gehabt? Ich habe auch ein paar Männer gehabt, weißt, du, aber nichts von Bedeutung. Sag, Atan, hast du mit Kunsang geschlafen?
»Sie
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