Die Tochter der Tibeterin
obwohl meine Seele zu zerbrechen schien. Kunsang indessen sang, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. ›Sieh nur, was ich kann!‹, sagte ihr offener, triumphierender Blick. Sie kam mir vor wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Welch unglaublich feines Gehör muss Kunsang besitzen, die alle diese vielleicht nur einmal auf einem Instrument gespielten oder gesungenen Melodien behielt! Sie war wie die Berggöttin, sanft und wild, unschuldig und tödlich. Es war, als habe sie einen Kampf aufgenommen, einen Kampf gegen den Rest der Welt.
Doch die Nomaden verehrten sie. Kunsangs Stimme betörte Alt und Jung; ihre verzauberte Phantasie zeigte ihnen mannigfaltige Bilder und viele andere Dinge, die nicht zu schildern sind. Na schön.
Bisher hatte Kunsang wenig Schaden angerichtet, aber ich wurde von bösen Ahnungen befallen. Ich wollte sie nicht berühren und auch nicht von ihr berührt werden. Ich sagte zu mir selbst: ›Du kannst sie haben, wenn du nur willst. Sie ist jung, beherrscht nicht ihr Blut und macht sich wunderliche Vorstellungen. Ja, ja, man könnte darüber lachen, es ist so klar wie in einem alten Märchen.‹
Doch hier trat etwas Unberechenbares in Erscheinung. Es war eine Sache, die ich Chodonla nicht antun konnte. Die Geister schlafen nie. Chodonla würde sich erinnern und mich zur Rechenschaft ziehen. Wozu, so dachte ich, wozu eigentlich ein so langes Leben, wozu die Erfahrungen so langer Jahre, wenn der Mensch letzten Endes ein kompletter Narr ist? Und so schwor ich in Gedanken an die Tote, Abstand zu wahren. Die Ehre ist nicht wie ein Gegenstand, den man zu einem Bündel zusammenschnürt und auf den Schutthaufen wirft.«
»Hast du es ihr gesagt?«
»Nicht mit Worten, nein. Ich wollte sie nicht kränken. Aber sie wird schon verstanden haben.«
»Und lässt sie dich jetzt in Ruhe?«
Er lachte und hustete gleichzeitig.
»Nein. Sie wird mich niemals in Ruhe lassen.«
»Wie meinst du das?«
»Es ist, als ob sie besessen wäre… Ja, besessen, sofern ich den Sinn dieses Wortes richtig verstehe.«
»Wovon besessen, A tan?«
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»Das weiß ich nicht. Sie ist an einem gefährlichen Punkt angelangt. Ihre Seele kann nicht alles fassen. Füllt sie das feine Gefäß zu rasch, zerspringt es.«
»So kann es mit ihr nicht weitergehen!«, sagte ich heftig. »Ich werde mit ihr reden.«
Er steckte sich eine Zigarette an.
»Nein, das ist sinnlos.«
»Sinnlos? Warum?«
Atan antwortete nicht sogleich. In die Yaks war Bewegung gekommen; sie wanderten über die Weide, wie ein langsamer Fluss.
Zwei Hirten drängten sie mit Zurufen und schrillen Pfeiftönen die Bergflanke empor. Einige Hunde folgten, laut bellend und in großen Sprüngen. Der Anblick faszinierte mich. Die Tiere wanderten in völliger Eintracht, mit würdevollen Schritten, eine einzige Masse von Nacken, Schultern und kolossalen Rücken. Diese Fleischmassen schienen so gewaltig, so plump, dass ich mit Staunen ihre leichten, graziösen Bewegungen betrachtete, und unter den wuchtigen Hörnern Gesichter sah, die mit den großen Augen etwas Gelassenes, ja nahezu Menschliches an sich hatten.
Atan nickte mir zu.
»Schön, nicht wahr?«
»Ganz wunderbar«, sagte ich leise.
Atan stieß den Rauch durch die Nase und sprach wieder von Kunsang.
»Sie denkt, dass sie etwas bewirken kann. Und es handelt sich zumeist um Dinge, die sie tatsächlich schon bewirkt hat.«
»Welche Dinge denn?«
Er rauchte versonnen. Als er sprach, stand seine Antwort, wie mir zuerst schien, in keinem Zusammenhang mit meiner Frage. Oft folgten Atans Gedanken keinerlei Systematik oder Logik; er ließ sich völlig vom Fluidum des Augenblicks tragen.
»Kennst du die Geschichte von Milarepa und dem Jäger? Eines Tages, als der Heilige vor seiner Höhle betete, sah er eine Gazelle, die vor einem Jagdhund floh. Kraft seiner Güte und seines Mitleids brachte der Einsiedler die beiden Tiere dazu, sich friedlich neben ihn zu legen. Bald darauf erschien der Jäger, ein jähzorniger Stammesfürst. In höchster Wut schoss er einen Pfeil auf den Heiligen ab. Dieser hob nur die Hand; der Pfeil fiel zu Boden. Nun stand der Jäger, wie vom Blitz getroffen. Milarepa bat ihn als Gast in seine Höhle und verfasste ein Gedicht. Es lautet: 247
Mag das Gewitter lärmen,
Es ist nur leeres Dröhnen.
Mag der Regenbogen leuchten,
Die Farben verblassen.
Die Welt ist wie ein Traum.
Strebe nicht nach Glück auf Erden,
Sondern nach Glück für das Leben, das kommt.
Als der Jäger das
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