Die Tochter der Tibeterin
ganz offen sein will – auch klüger. Sie machen alles richtig und gut. Sie wissen, wie man lebt und warum es gut ist, so zu leben.«
Ich schwieg. Bisher hatte mir vieles, was ich in Tibet gesehen hatte, Unbehagen verursacht. Es war, als ob eine grelle, geschmacklose Farbschicht die wundervollsten Kunstwerke verunstaltete, als ob in einem kostbaren Gobelin die unzähligen zerrissenen Maschen unweigerlich das ganze Muster zerstörten.
Diese Landschaft mit ihren Menschen kam mir wie ein Traum vor.
Einer jener Träume, die hinreichen, um das Leben auch in seinen dunkelsten Schattenseiten zu erleuchten. Die Nomaden webten um mich herum ein Netz von Geheimnissen, jener Geisterfalle ähnlich, die Kunsang vor langer Zeit mit rotem Garn und bunten Federn angefertigt hatte. Und in diesem Zusammenhang wurde mir klar, dass nahezu jede tickende Sekunde in mir von Gedanken an Kunsang erfüllt war. Sie beschäftigte mich mehr, als ich es je für möglich gehalten hatte. In das widersprüchliche Gefühl, das ich für sie empfand, mischten sich Mitleid, Bewunderung, Neugier und Wut.
Mein realistisches Denken wurde mit ihr nicht fertig; sie verblüffte mich. Mochte ich die Sache auch noch so sehr auf objektive Art betrachten, mein Herz wusste es anders, und eben dies rührte mich mächtig auf. Kunsangs Unberechenbarkeit konnte sie zu den merkwürdigsten Handlungen verführen. Ich fühlte, dass sie in Gefahr war, aber ich konnte sie nicht vor Torheiten bewahren. Und immer wieder sah ich Chodonlas Gesicht vor meinem inneren Auge – ich brauchte dazu nicht viel Phantasie –, es war ja mein eigenes Gesicht, aber ich sah die Trauer auf diesem Antlitz. Sie gehörte nicht zu mir, diese Traurigkeit, obwohl Chodonla mir so sehr glich, denn sie kam einzig aus ihr, aus dem Leben, das sie zerstört hatte. Darum würde ich mit allen Mitteln kämpfen, um Kunsang vor dem Unglück zu bewahren. Und doch war es so schwer, sie zu verstehen, denn ich 244
war voller gesunder Vernunft, zu ungeduldig, ich zermarterte mir vergeblich den Kopf, um hinter den Kniff, den Trick zu kommen, der bewirkte, dass sie mir endlich vertraute. A tan… ja, mit Atan konnte sie sprechen wie mit sonst niemandem.
»Wenn ich dich richtig verstanden habe«, sagte ich zu Atan,
»hast du Kunsang nicht angerührt.«
Er saß auf den Fersen, in der lockeren Haltung der Nomaden, die er stundenlang einhalten konnte. Jetzt schüttelte er den Kopf, zeigte ein Lächeln, das seinem Gesicht einen überraschend scheuen Ausdruck verlieh.
»Es kommt auf dich an, mir zu glauben oder nicht.«
Ich lächelte auch. Ich hatte viele Gedanken gewälzt, Gedanken, die meine Seele beunruhigten, Gedanken, die sich langsam auflösten, wie Wolken am Himmel.
»Ich glaube dir«, sagte ich.
Er nickte. Und dann plötzlich, von jeder Verlegenheit befreit, fügte er mit der hochherzigen und offenen Einfachheit, die in seiner Statur und seinem Gesicht lag, hinzu:
»Es stimmt schon, Tara. Eine Zeitlang war ich nicht im Gleichgewicht.«
»Ihretwegen?«
»Ob ich es will oder nicht, ich spiele eine Rolle in ihrem Leben; womöglich die falsche Rolle. Sie wollte zu den Hirten, damit sie ihr die Melodien von früher beibrachten. Sie sagte: ›Die alten Frauen kennen viele Lieder.‹ Zuerst wehrte ich mich dagegen. Es war mir unangenehm, wenn nicht sogar peinlich. Doch sie ließ nicht locker und schließlich erfüllte ich ihren Wunsch. Unsere alten Frauen waren entzückt. Kunsang behielt alle Lieder im Gedächtnis, die alten und die neuen, ohne sich auch nur in einem Ton zu irren. Und plötzlich erklangen in meiner Erinnerung, über die Jahre hinweg, die Lieder, die meine Mutter sang. Ihre Stimme erklang mühelos, rein und klar.
Vielen Frauen kamen dabei die Tränen. Und ich, der beherrscht und gleichmütig empfinden wollte, begann vor Sehnsucht, Furcht und Zärtlichkeit zu zittern. Meine Erinnerungen kehrten zurück in jene ersten Jahre, da kleine Kinder beginnen, in den Farben, Lauten, Berührungen und Geräuschen um sich herum die Welt zu entdecken: den Geruch von Butteröl und Wacholderholz, das Knistern der Zweige, den Feuerschein auf den geschnitzten Deckenbalken, das Schillern der 108 Silberbecher auf dem Hausaltar, die Wärme wattierter Seidendecken, den Geschmack süßen Gerstenbreis… Und 245
eine Stimme, rau und wunderbar sanft, die immer wieder, bis in die Dämmerung des Schlafs diese Lieder sang. Ich wollte diese Bilder nicht sehen und kämpfte gegen sie an, mit gewaltiger Anstrengung,
Weitere Kostenlose Bücher