Die Tochter der Tibeterin
war es, was sie vor allem auszeichnete und ihr erlaubte, andere Menschen zu betören. Kunsangs Haarschmuck, ihre gepuderten Wangen, ihr Kleid waren vom dunklen Glanz der Sonne übergossen. Wahrhaftig, sie glich einer Göttin, würdevoll, unvergleichlich anmutig, und zornig –
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ja, voller Zorn. Immer mehr Zuschauer fanden sich ein, hörten ihr respektvoll zu, mit Verehrung sogar, wissend, dass sie Dinge aussprach, die sie selbst kaum zu denken wagten. Einige chinesische Offiziere waren auch da; hörten stirnrunzelnd zu, überrascht offenbar, dass eine Wandersängerin ein so gutes Chinesisch sprach –
und nicht sehr erfreut, da die Leute zustimmend murmelten und den Soldaten zornige Blicke zuwarfen.
›Was sagt sie?‹, fragte einer von den Amerikanern den Händler.
Der Mann, der ziemlich blass geworden war, stotterte eine Erklärung, aber Kunsang kam ihm zuvor. Sie wirbelte herum, sprach die Touristen direkt an. Ihr Englisch war ebenso gut wie ihr Chinesisch.
› Diese Antilopen sind geschützt. Das Tier wurde von Wilderern erschossen! ‹
›Das Miststück lügt!‹ kreischte der Händler. ›In der autonomen Region Tibet gibt es keine Wilderer. Das Tier wurde legal erlegt, unter Beachtung bewilligter Quoten.‹
Kunsang beachtete ihn nicht, sah unverwandt die Amerikaner an.
›Denkt mal darüber nach, okay? Die Blutsauger am Flughafen, die ziehen euch jede Menge Dollars aus der Tasche. Und die Einfuhr in die Vereinigten Staaten ist auch verboten, oder? Wenn ihr noch mehr Probleme wollt… ‹
Sie wollten das nicht. O Gott, nein! Keine Scherereien für einen schlecht präparierten Antilopenkopf! Die Amerikaner nuschelten etwas und machten sich schleunigst aus dem Staub. Das Geschäft ging endgültig flöten. Der Händler fing an zu brüllen, chinesische Stimmen fielen von allen Seiten ein, in tugendhafter kollektiver Empörung. Ich hatte seit Jahren keinen Menschen mehr verprügelt, aber jetzt riss mir fast der Geduldsfaden. Doch ich beherrschte mich und biss die Zähne zusammen. Kunsang stand da, als ob sie das alles nichts mehr anging. Ihr Gesicht war heiter, ja, sie lächelte beinahe.
Ein alter Tibeter rief zornig, die Sängerin spreche die Wahrheit, und es sei eine Niedertracht, wehrlose Tiere zu jagen. Andere Tibeter stießen zustimmende Rufe aus. Die Lautstärke schwoll an, der Händler wurde von allen Seiten beschimpft und duckte sich. Eine Frau schrie, die Chinesen hätten die Erde und die Geier mit vielen guten Menschen gefüttert – eines Tages sollte es an ihnen sein, Futter zu werden. Die Chinesen fühlten sich nicht eigentlich bedroht, denn für diese Leute bedeuteten wir alle nichts. Sie waren es, die alle Bäume gefällt, die Erde mit Bulldozern aufgerissen, Giftmüll 252
gelagert, unsere Städte in Asche gelegt und Heiligtümer ausgeraubt hatten. Es verletzte ihren Stolz, bloß ihren Stolz, wenn wir sie beschimpften.
Inzwischen sah es nicht gut aus. In uns war genug Hass, genug Schmerz, genug von allem, um Marktstände umzustoßen, Lastwagen in Brand zu stecken und Polizeistationen zu zerstören, bis nur noch vereinzelte Trümmer und kaputte Möbel übrig waren. Bevor die ersten Steine geflogen kamen, packte ich Kunsang an den Schultern und schrie, ob denn keiner merke, dass das Mädchen stockbetrunken sei? Kunsang sah mich an, neugierig und etwas ironisch. Ich zischte:
›Los, komm!‹, und zerrte sie weg. Die Menge ließ uns durch.
Daraufhin beruhigte sich das Geschrei, die Menschen gingen auseinander. Kunsang ließ sich willenlos von mir fortführen. Ich hätte ihr sagen können, wozu das Theater? Gab es nicht genug auf der Bühne zu sehen? Wer genau zuhörte, merkte doch, wie die Schauspieler die Chinesen aufs Korn nahmen. Aber die Han sahen sich unsere Parodien nicht an. Schließlich interessierten sie sich in diesem Land für Profit und Verdienst, nicht für Spottverse.
Ein junger Mann mit aufgelöster Miene stürzte uns entgegen. Er war als Clown verkleidet; die Schminke, vermischt mit seinem Schweiß, ließ sein volles Gesicht glänzen. ›Kunsang?‹ Er sah sie erschrocken an, wollte etwas fragen, wusste aber nicht genau, was er wissen wollte. Er zeigte vor Angst das Weiß seiner Augen. Man konnte es ihm kaum verargen. Selbst jetzt noch konnte es unangenehme Folgen geben.
›Schon gut‹, erwiderte ich. ›Sie ist betrunken.‹
Ich sagte es so, dass er es verstand, worauf er heftig nickte.
›Ach ja, betrunken! ‹
Er hatte ein ebenmäßiges, für sein Alter zu
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