Die Tochter der Tibeterin
keine. Mein Vater war ja Chinesen setzte sie ganz unbefangen hinzu.
Ich nahm eine Zigarette und bot ihr eine an. Sie rauchte nicht.
Aus Rücksicht auf ihre Stimme, sagte sie, und erzählte weiter. Von ihrem Vorhaben hatte sie niemanden in Kenntnis gesetzt. Den Flug nach Nepal hatte sie heimlich gebucht. Weil sie Geld brauchte, hatte sie zuerst in Kathmandu als Verkäuferin gearbeitet. Nicht lange, nur ein paar Monate. Und wie war sie nach Tibet gekommen? Sie hatte sich durchgeschlagen, sagte sie und starrte mich mit einem dunklen Blick an, der jede Erklärung überflüssig machte. Ihre Augen sagten es ganz einfach.
›Und deine Familie?‹, fragte ich. ›Hast du überhaupt nicht an sie gedacht? ‹
›Mein Großvater ist tot‹, sagte sie knapp.
Sie musste sich mit der Familie überworfen haben. Ich konnte gut verstehen, dass der Hunger sie dazu getrieben hatte, das Elend auch.
Doch ich sagte:
›Du solltest solche Sachen bleiben lassen.‹
›Ach, es kommt vor allem darauf an, dass man was aushalten kann. Viel Schreckliches ist nicht dabei.‹
Wie lange sie das gemacht hatte, wollte ich wissen. Nicht lange, nein. Später, in Lhasa, hatte sie bei Ani Wangmo, ihrer alten Kinderfrau, gelebt. Und bald darauf hatte sie Yuthok kennengelernt.
›Yuthok?‹
Sie drehte, ohne sich zu rühren, mit einer sonderbaren, beinahe vogelartigen Bewegung den Kopf über die Schulter. Ich sah in die 240
gleiche Richtung und erblickte eine alte Frau, die die Truppe offenbar leitete. Sie trieb ihre Scherze mit den Zuschauern, wie es die Tradition verlangt, doch ihr Ausdruck hatte etwas Gebieterisches, das jede Vertraulichkeit ausschloss.
›Yuthok hat mir wichtige Dinge beigebracht. Dinge, die ich unbedingt kennen muss. Meine Stimme hat sich entwickelt, aber Yuthok sagt, das ist nicht genug. Sie ist sehr streng zu mir, aber ich fühle mich ganz wohl dabei.‹
Ich rauchte und beobachtete sie. Ihre Haut hatte die Glätte der Jugend bereits verloren. Sie hatte ein kühles, wissendes Gesicht, fast das Gesicht einer reiferen Frau. Die Zuschauer richteten neugierige Blicke auf sie, warteten auf ihren nächsten Auftritt. Sie schenkte ihnen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ihre Augen waren unverwandt auf mich gerichtet.
Unablässig war mir das Vorhandensein einer Gefahr bewusst, einer Gefahr, die ich nicht deuten konnte. Was beunruhigte mich so an ihr? Ich fühlte, dass es ein Band zwischen uns gab, irgendwo in einer Wirklichkeit, die für sie – und für mich – am Rande der Träume lag.
›Zeichnest oder malst du noch?‹, fragte ich sie plötzlich.
Sie antwortete ohne zu zögern.
›Nein, wozu? Du bist ja da.‹
Ich nahm eine Wut bei mir wahr und erwiderte schroff:
›Ich komme nicht auf Befehl.‹
Da sah ich, wie sie lächelte, die Pupillen geweitet, die kleinen Zähne weiß und scharf.
›Ich habe dir etwas gegebene sagte sie.
Ich schämte mich ein wenig. Ich hatte mit großer Härte zu ihr gesprochen und dabei vergessen, wie jung sie ja eigentlich war.
›Mir?‹, fragte ich, nun sanfter.
Sie nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen.
›Ja. Ich habe dir das Bild deiner Mutter gegeben. Das ist doch was, oder?‹
Ich stand wie zu Stein erstarrt. Ein Atemzug genügte: Die Sekunden meines Lebens ballten sich in einem Augenblick zusammen, machten mir das Unglaubliche glaubhaft, ließen mich das Unmögliche begreifen. Ich erinnerte mich an alles. Es überlief mich kalt.
›Ja‹, sagte ich langsam, ›das ist wirklich was…‹«
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24. Kapitel
D ie Hirten ritten kleine, rauhaarige Pferde, die mit gesenktem Kopf weideten, während die Yaks mit lockeren Fußbewegungen über den Hang wanderten, vor dem Hintergrund eines dunklen, frischgrünen Waldes. Föhren, Weißtannen, gewaltige Rhododendren wuchsen stark und mächtig. Die Yaks, sechzig oder siebzig Tiere vielleicht, waren rund um kleine Wasserflächen verteilt, die von irgendeiner Gletscherquelle gespeist wurden. Über den Tümpeln schwirrten Wasseramseln und Lerchen. Heuschrecken, gelbe und grüne, tummelten sich im Gras. Die Yaks suchten gemächlich in der Pflanzenwelt am Bergrand ihre Nahrung. An einigen Stellen war der Hang bereits kahl gegrast. Einige Tiere wälzten sich im Schlamm.
Die Kälbchen pufften und balgten sich unter Aufsicht der Mütter.
Die Leittiere waren mit roten Halsbändern und Wollquasten geschmückt, und wirkten gleichwohl urtümlich und gewaltig, wie Kolosse aus dunklem Granit.
»Bevor die Chinesen kamen«, sagte Atan, »waren
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