Die Tochter der Tibeterin
hörte, wurde sein Herz mit Dharma –
Frömmigkeit – erfüllt. Er gelobte, nie mehr einem Tier etwas zuleide zu tun. Er ließ sich von Milarepa unterweisen und wurde selbst ein bedeutender Heiliger.«
Ich hörte aufmerksam zu, und Atan sprach weiter.
»Wir essen Fleisch, wie du weißt, was Buddhisten in südlichen Ländern nicht tun. Das raue Klima verlangt, dass dem Körper Kraft und Wärme zugeführt wird. Aber das Töten eines Tieres soll ohne Hass und Zorn geschehen. Buddha hat gesagt: ›Alle Wesen wollen glücklich sein, deshalb sollt ihr Mitleid mit allen haben.‹ Früher war es Brauch, dass der Metzger zu dem Tier sprach: ›Verzeih uns, aber wir müssen dich töten, um am Leben zu bleiben.‹ Er legte seine Hand auf den Kopf des Tieres, damit dieses nickte und seine Zustimmung gab. Das war unbedingt notwendig. Denn wer ein Tier gegen seinen Willen tötete, wusste, dass das Tier später einmal Rache nehmen würde. Ein Tier jedoch, das sich freiwillig dem Menschen opferte, wurde auf diese Weise in einer höheren Daseinsform wiedergeboren. Ein unwissendes Tier konnte also in einem späteren Leben zu einem wissenden Menschen werden. So glaubten wir jedenfalls früher, und keiner kann beweisen, dass es nicht so ist. Im alten Tibet glaubten Kranke, dass sie schneller gesund wurden, wenn sie einem Tier das Leben retteten. Ein Familienmitglied ging zum Schlachter, warf einer Ziege oder einem Schaf den Gürtel des Kranken über den Kopf, zahlte den Marktpreis für das Tier und nahm es mit. Die geretteten Tiere wurden zum Tempel gebracht, wo es eine Weide für sie gab. Die Mönche verwendeten dann die Wolle und den Dung. Du kannst dir vorstellen, wie entsetzt wir waren, als nach unserer › friedlichen Befreiung‹ die Han-Chinesen verlangten, alle unnützen Fresser totzuschlagen. Die Tiere wurden mit Stöcken oder Steinen erschlagen, auf Bajonette aufgespießt, erschossen oder vergiftet. In den Ortschaften mussten 248
die Kinder Fliegen in Gläsern fangen; die Fliegen wurden auf dem Tisch ausgeschüttet und gezählt. Wer nicht genug tote Fliegen hatte, wurde bestraft. Uns Kindern war stets beigebracht worden, dass nicht nur jeder Mensch, sondern jedes Tier und jedes Insekt ein Recht hat zu leben, dass wir jede Kreatur vor Schaden bewahren sollen. Aber die ›Befreien hatten da andere Ansichten, für sie war jedes Leben wertlos, und es sah doch wirklich drollig aus, wenn die Tiere sich im Schmerz wälzten. Dazu kam, dass die Chinesen schon immer weise Feinschmecker waren: Angsthormone machen das Fleisch würziger – hast du das gewusst?«
»Mal wieder etwas dazu gelernt. Ich dachte, du wolltest mir von Kunsang erzählen.«
»Ich erzähle die ganze Zeit nur von ihr. Heutzutage dürfen Hunde, Vögel und Katzen wieder leben. Und was uns Tibeter betrifft, wir frönen dem Aberglauben, der niedrigen Wolllust, wir denken langsam, wir sind schmutzig und viel zu ungebildet, um fortschrittlich zu leben. Was soll’s?«
Ich dachte, er geht meiner Frage aus dem Weg, oder er hat sie nicht wahrgenommen. Und er sprach weiter, von chinesischen Beamten, die aus Langeweile Jagden auf Wildesel und Blauschafe veranstalteten. Ganze Rudel wurden dezimiert. Sehr begehrt war der Schneeleopard, den es kaum noch gab. Antilopen wurden an den Rand des Aussterbens gebracht. Besonders begehrt und außerordentlich hoch bezahlt war das Geweih des Weißlippenhirsches, das als Aphrodisiakum in ganz Asien verwendet wurde.
»Manche Menschen lieben die Tiere nicht mehr, um sie am Leben zu sehen, sondern um sie zum Sterben zu bringen. Sie haben keine Achtung vor der Kreatur, sie haben nur die Freude am Blut, die stärker ist als alle andere Freunden, weil es sie zum Herrscher über Leben und Tod macht. Und wer diese Art Freude beim Totschlag eines Tieres empfindet, empfindet sie ebenfalls, wenn er Menschen umbringt. Glaube mir, Tara. Ich weiß, worüber ich rede.«
»Aber was hat das alles mit Kunsang zu tun?«
Die brennende Zigarette unbeachtet in der Hand, sprach er weiter.
»An dem Fest in Batang hatten die fahrenden Künstler eine Holzbühne aufgebaut. Sie wurde mit dem, was die Schauspieler gerade fanden, jedesmal neu gezimmert. Und sie war geschickt gemacht, der Schall trug weithin. Die Schauspieler trieben ihre 249
Possen, ließen mit walnussgroßen Zimbeln, Kupferglocken und Trommeln viel Gerassel und Geklingel hören. An drei Seiten der Bühne saßen die Zuschauer mit gekreuzten Beinen, jubelten und klatschten. In Batang hatten
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