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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sich, wie jedes Jahr, eine Menge Straßenhändler eingefunden, Tibeter, Chinesen und Muslime. Es waren auch Touristen anwesend, etliche Amerikaner, sowie ranghohe chinesische Offiziere, die mit ihren Familien das Fest besuchten. Die Chinesinnen zogen von Laden zu Laden, ihre Stimmen schwirrten hoch über dem Straßenlärm. Das Warenangebot war miserabel – die Chinesinnen kauften trotzdem, arrogant, raffgierig und zutiefst gelangweilt. Am Sakadawa-Tag werden vorwiegend Ritualgegenstände verkauft, doch ebenfalls Proviant für die Pilger. An vielen Ständen wurden heiße Nudeln, Rinder- oder Schweinemägen voll mit Butterklumpen, getrocknetes Yakfleisch, Hartkäse, Salz, Sonnenblumenkerne und Walnüsse angeboten. Zwei junge Amerikaner blieben plötzlich stehen, als der chinesische Besitzer eines solchen Standes ihnen plötzlich den Kopf eines Orongos, einer aussterbenden Antilopenart, zeigte. Das weiße Fell, die muschelartig geschwungenen Hörner gaben dem Tier den eigentümlichen Ausdruck eines alten, schlafenden Mannes. Der Händler wusste, dass Ausländer bereit waren, für seltene Trophäen große Summen auszugeben. Die Amerikaner machten einen verlegenen Eindruck: es war, als ob der Anblick des toten Tieres in seiner morbiden Schönheit ihnen unheimlich war. Der Händler sprach genug Englisch, um ein dürftiges Gespräch zu führen. Das Tier sei jüngst erlegt, erklärte er, und eine höchst wertvolle, seltene Sorte. Die Amerikaner standen nahezu verschüchtert da, zugleich angezogen und abgestoßen. Die Antilope war in Tat und Wahrheit nicht gestorben; unter starken Wimpern sandten ihre leeren Augen eine Warnung herüber, eine Art höhnischen, gefährlichen Bannspruch. Die Touristen sahen aus, als hätten sie am liebsten das Weite gesucht. Der Chinese lachte gewinnend, hielt das Tier an den Hörnern fest und senkte den Preis. Während die Amerikaner noch zögerten, stand plötzlich Kunsang vor ihnen. Sie hatte, während sie auf ihren Auftritt wartete, den Zwischenfall von der Bühne aus beobachtet. Sie war diesmal als Himmelsfee verkleidet. Ihr Kleid aus billiger Kunstseide war mit einer echten Brokatbordüre gesäumt, deren Stickerei aus Goldfäden bei jeder Bewegung das sinkende Sonnenlicht auffing. Ihre Brauen waren schwarz nachgezogen, die Lippen kirschrot, auf der Stirn trug sie eine Kugel aus Bernstein. In 250
    ihren Augen funkelte etwas Trunkenes und Drohendes zugleich. Ich erschauerte, denn mir war dieser Ausdruck vertraut, hatte ich ihn doch vor langer Zeit in den Augen meiner Mutter gesehen. Die Amerikaner starrten sie an, zugleich fasziniert, bezaubert und beunruhigt. Kunsangs eigenwillige Verkleidung verlieh ihrer Erscheinung etwas Unwirkliches. Sie sprach zuerst den Händler auf Chinesisch an. Ihre Stimme klang schrill. Chinesisch ist eine Sprache, die sehr laut gesprochen wird.
    ›Woher hast du diesen Kopf? Ach, ich weiß schon, du hast ihn von den Jägern billig erworben und willst ihn jetzt teuer verkaufen, he? Du gehst kein Risiko ein, nein. Schande auf dich! Was du tust, ist schlimm, wirklich sehr schlimm. Das Tier wird sich rächen.
    Siehst du nicht, wie zornig es ist?‹
    Unwillkürlich warf der Händler einen Blick auf den Tierkopf; ein kaum wahrnehmbarer Ausdruck von Widerwillen erschien auf seinem Gesicht. Doch er runzelte böse die Stirn und zischte:
    ›Hau ab, du kleine Schlampe, was sorgst du dich um dieses beschissene Vieh?‹
    Sie erwiderte ungerührt:
    ›Du verkaufst den Orongo, du glaubst, die Dollar würden jetzt rollen, he? Hast du irgendeine Vorstellung davon, was passieren wird? Nein, nicht wahr. Hör gut zu, ich werde es dir jetzt sagen! Du wirst krank werden: ein Bergfieber, das ins Blut geht. Und ebenso deine Frau, und deine beiden kostbaren Söhne. Die Tiere werden sie krank machen. Einer wird sterben, ich weiß es genau. Was sagst du?
    Dass ich lüge? Egal, warte ab, du wirst noch eine Menge erleben.
    Geh lieber zurück, von wo du gekommen bist? Bald ist es zu spät!‹
    Bei diesen Worten blieb allen der Mund offen. Ich verstand nicht, woher sie ihren Mut nahm, aber ich begriff, warum sie kämpfen wollte. Das Ganze, was sich hier abspielte, blieb mir in einer Art surrealer Zeitlupe im Gedächtnis haften. Kunsangs Stimme war scharf – die Stimme meiner Mutter war es ebenso gewesen. Kunsang hatte die gleiche vermittelnde Kraft, den gleichen Hochmut.
    Tatsächlich war Arroganz hier erforderlich. Sie war noch kaum erwachsen und verfügte bereits über genügend Macht. Das

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