Die Tochter der Tibeterin
tausendköpfige Yakherden keine Seltenheit. Nach der ›Befreiung‹« – er dehnte sarkastisch das Wort -»wurden die Yak- und Schafherden den Kommunen zugeteilt. Dann durften wir den ›Befreiern‹ Steuern zahlen. Heute darf jede Familie nicht mehr als dreizehn Yaks halten.
Aber der kommunistische Eifer hat etwas nachgelassen. Die Beamten führen nicht mehr so genau Buch wie früher. Sie sehen lieber fern.«
Ich wanderte neben Atan inmitten von Wiesenblumen, sah die Dinge um mich herum gleichzeitig verschwommen und gestochen klar. Große Eiskegel leuchteten im Norden, und über allem funkelte der Himmel im tiefen, durchscheinenden Blau – blau wie der Ozean, der mit tausend Geheimnissen über unseren Köpfen hing. Ich beobachtete die Hirten, während sie ihren täglichen Arbeiten nachgingen; ihre Kraft und Lebensfreude berührte mich tief; sie lachten, als seien sie fähig, Berge zu versetzen. Es machte nichts, dass die Jurten sich bei Tageslicht voller Flecken und Risse zeigten, dass zumeist die größte Unordnung herrschte. Allerdings musste ich mich an die getrockneten Yakkeulen, die bei den Vorräten entlang der Zeltwände lagen – und Schwärme von Fliegen anzogen – erst gewöhnen. Ja, die Nomaden führten ein derbes Leben; aber sie besaßen viel Handfertigkeit, wie Wanderer das eben gewohnt sind.
242
Und sie sahen über sich den weiten Himmel, der den Geist der Menschen zu den Göttern lenkt. Das machte sie heiter und stark.
Die Jungen wurden frühzeitig mutig gemacht; sie waren zum Kampf mit den Elementen und den Übeltätern bereit; auch die Mädchen zeigten, selbst wenn sie noch klein waren, Selbstbewusstsein und Stärke. Ich sah einige von ihnen, die einen erlegten Bock häuteten und zerteilten. Sie arbeiteten geschickt, wie kräftige junge Männer, schauderten nicht vor den blutigen Eingeweiden zurück. Den Abfall warfen sie den Hunden zu. Einige Halbwüchsige sammelten Yakfladen als Brennmaterial. Ihre Haut glänzte, vor allem die Stirn und die Wangen, sie hatte fast die Farbe von Kupfer. Sie kneteten die frischen Fladen mit beiden Händen zu Kugeln, bevor sie diese schwungvoll in ihren Buckelkorb warfen.
Der Yakmist wurde später in der Sonne getrocknet und lieferte wertvolles Brennmaterial. Während ihrer Arbeit schwätzten die Mädchen pausenlos. Sie neckten die gleichaltrigen Jungen, die ihnen Scherzworte zuriefen. Die Jungen trugen Jeans, bunte Hemden aus Polyester, die nicht für das raue Klima gemacht waren, und gaben sich durch modische Sonnenbrillen und Stiefel aus Kunstleder ein verwegenes, etwas anrüchiges Aussehen. Die älteren Männer zeigten sich noch in ihrer traditionellen Tschuba aus Schaffell, die von einem Hüftgürtel gehalten wurde. Ihre Filzstiefel waren mit fester, bunter Wolle kunstvoll bestickt. Sie trugen – wie Atan – ihr schweres, lockiges Haar mit einer roten oder schwarzen Kordel zum Zopf geflochten, als Kranz um den Kopf. Männer wie Frauen liebten Bernstein- und Korallenketten sowie röhrenförmige Karneolsteine,
»Dzi-Steine« genannt, denen man magische Kräfte zuschrieb. Sie bevorzugten besondere Farben, leuchtend und stark wie Beeren oder Bergblumen. Eine Frau saß mit ausgestreckten Beinen und webte eine Decke auf einem Webrahmen, der zwischen Steinen und Stöcken ausgespannt war, gegen die sie ihre Sohlen drückte. Ich sah sie im Halbprofil, während ihre kräftigen kleinen Finger die Fäden zupften. Sie webte ein schönes, üppiges Muster, das nichts mit Made in China zu tun hatte. Einige ältere Menschen, Frauen und Männer, zwirbelten Garn aus Yakhaar auf kleinen Handspindeln. Sie standen dabei oder gingen mit leichten Schritten auf und ab, lachend und plaudernd. Manchmal sangen sie mit brüchiger oder heiserer Stimme einander an – ein Wechselgesang, der viel Gelächter auslöste.
»Was singen sie?«, fragte ich Atan.
»Sie improvisieren. Solche Gesangsduelle enthalten eine Menge 243
Motive, beziehen sich auf bekannte Ereignisse oder auf die Eigenarten der einen oder anderen Person. Manche sind recht derb, aber keiner darf sich beleidigt zeigen, sondern muss schnell wie der Blitz einen passenden Antwortreim finden. Die Alten hängen noch an der Tradition, sie spielen unermüdlich Wortspiele, Schlag auf Schlag; sie bekommen nicht genug davon. Aber die Jungen bevorzugen chinesische Rockmusik. Sie sagen, ihre Eltern sind altmodisch.«
»Ich mag altmodische Menschen.«
»Sie sind praktischer und selbstständiger als ihre Kinder. Und wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher