Die Tochter der Tibeterin
Hände. Kunsang rührte sich nicht. Ich stand so dicht vor ihr, dass ich den leichten Schweißfilm auf ihrem Gesicht sah. Sie war sehr mager für eine junge Frau, ohne Hüften und Busen. Trotzdem machte sie keinen kranken Eindruck, wirkte sogar recht kräftig; ihr Gang war steif und entschlossen, etwas breitbeinig. Wahrscheinlich gehörte das zu ihren Männerrollen.
Die Kunst des Schnitzers beeindruckte mich. Die Maske war kein vertrautes Menschenantlitz, sondern ein Naturdämon, ein Schatten aus dem Totenreich.
Und doch war sie auf geheimnisvolle Art von Lebendigkeit erfüllt.
»Ist sie nicht schwer?«, fragte ich Kunsang.
»Nein, sie ist sehr leicht. Aber zum Singen nehme ich sie ab.
Sonst kann ich nicht atmen.«
»Du singst ganz erstaunlich«, sagte ich.
Sie verzog höhnisch die Lippen.
»So? Kennst du dich vielleicht aus?«
Ich ging auf ihre Herausforderung nicht ein. Sie trug eine störrische, überhebliche Art zur Schau. Gleichwohl konnte ich fühlen, wie betroffen sie war. Sie hatte ihre Entwicklungsjahre voller Unsicherheit und Hemmungen durchlaufen, hatte sich viele Welten aus eigener Kraft auftun müssen. Nach und nach schmolz meine Befangenheit ihr gegenüber dahin. Im selben Maß gewann ich die Sicherheit wieder, die meinem Alter und meiner Stellung innerhalb der Familie zustand. Irgendwie musste ich den Zugang zu ihr finden.
»Entsinnst du dich, wie dein Großvater sang? Hunderte von Liedern kannte er! Er sang nur für sich, und wir waren trotzdem erschüttert. Amla weinte alle möglichen Tränen, weil es sie an früher erinnerte. Aber nie, wenn wir dabei waren. Oder hast du sie mal weinen gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Ausdruck wurde allmählich weicher.
Ich merkte, wie sie sich innerlich entspannte. Endlich war es mir gelungen, die harte Kruste zu durchbrechen, etwas in ihr zu 299
berühren.
»Ja, aber sein Gedächtnis ermüdete schnell. Er sagte, er wusste nicht mehr so viele Lieder wie früher. Manche konnte er nur noch zur Hälfte auswendig. Aber Yuthok kannte sie alle und hat sie mir beigebracht.«
Jetzt, wo sie vor mir stand und mich der Zauber, der von ihr ausging, auf rätselhafte Weise umfing, war ich vorsichtig. Ich hätte nicht einmal mir selbst gegenüber eingestanden, wie viel Angst ich hatte, sie wieder – und diesmal endgültig – zu verlieren. Ich dachte an mein Gespräch mit Sherab Rimpoche und auch an das, was ich von Atan wusste, und mein Herz war schmerzvoll beunruhigt.
Da kam einer der Schauspieler und überreichte uns zwei Schalen mit Chang. Er trug noch immer das Gewand der »Prinzessin«, aber er hatte seine Maske abgenommen. Ich sah, dass er sehr jung war, ungefähr siebzehn. Seine Stirn war etwas zu niedrig und sein Mund etwas zu breit, als dass man ihn hätte hübsch nennen können. Dabei standen seine knabenhaften Züge im Gegensatz zu den farbenfrohen Brokaten seines Kostüms, und dieser Zwiespalt übte einen ganz besonderen Reiz aus.
»Das ist Norbu«, sagte Kunsang, freundlich und gleichgültig.
Norbu grüßte verhalten und erklärte, dass ein Gönner die Schauspieler bewirtet hatte. Er blickte Kunsang nicht ins Gesicht, sondern wirklich ganz tief in die Augen. Sein Blick war mit einem Kummer vermischt, den ich nicht deuten konnte. Wir tauschten ein paar Worte; ich beglückwünschte ihn zu seinem Tanz. Norbu lachte, verneinte mit ausdrucksvollen Bewegungen seiner Hände. Ich erkannte, dass er schüchtern war.
Nach ein paar Minuten ging er, während Kunsang sich mit geschmeidiger Bewegung auf dem Boden niederließ. Bevor sie ihre Schale zum Mund hob, hatte sie die bei den Nomaden gebräuchliche Geste, ihren rechten Ringfinger in das Getränk zu tauchen und ein paar Tropfen auf den linken Finger zu spritzen, wobei sie mit halblauter Stimme einen Segen sprach. Inzwischen schallte Discomusik aus allen Lautsprechern. Ich wies auf Norbu, der sich langsam und offenbar unglücklich entfernte.
»Ist das dein Freund?«
Sie nahm einen großen Schluck.
»Ja, ich bumse mit ihm. Aber mit anderen auch, wenn ich Lust habe.«
Es gehörte sich nicht, dass sie auf diese Weise zu mir sprach.
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Dieser Jargon der Jugendlichen, »Fuck you« und ähnliches, hatte überhaupt keine Bedeutung mehr, zeugte lediglich von einem gewissen Unwillen. Du machst es mir wirklich schwer, dachte ich, aber ich wollte lieber nicht lachen.
»Mich kannst du nicht schockieren, Kunsang. Aber ich nenne es nicht so.«
Ihre Augen verengten sich und funkelten wie die einer
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