Die Tochter der Tibeterin
vollendet geformten Strophen, und die Gesichter der Zuschauer drückten Ergriffenheit aus. Von Zeit zu Zeit schloss Kunsang die Augen, wandte ihr schweißglänzendes Gesicht der Sonne zu. Ich spürte, wie der ungeheure Strom ihrer Visionen ihren Geist überflutete, sich in Tönen und Klängen verdichtete.
Wahrscheinlich begriff sie selber kaum, was diese Ergriffenheit in ihr auslöste, diese Ambivalenz der Gefühle, das blitzschnelle Umschlagen von Liebe zu Hass. Sie sang in einer alten Sprache, die ich nur teilweise, wenn überhaupt, verstand. Doch ich fühlte, dass die tiefsten Glaubenswerte unseres Volkes in diesem Lied lebendig wurden. Schmerzen und Sehnsüchte erwachten, Versunkenes drang ans Licht. Ich sah es in der Art, wie Sherab Rimpoches Mund bebte, als sei er den Tränen nahe, wie die Lamas sich mit geschlossenen Augen zurücklehnten und die übermütigen jungen Novizen erstarrten. Und auch die Frauen und Männer in ihren Festgewändern standen ganz still. Ich sah ihre Lippen lautlos die Worte nachsprechen, als wollten sie diese auswendig lernen, wie ein Gebet, sie niemals vergessen. Meine Augen kehrten zu Atan zurück, der stumm und wie abwesend neben mir stand.
»Atan, ich kann ihre Worte nicht verstehen.«
Er sah mich an, mit leerem Blick.
»Sie singt in der Dakin -Sprache – in der Sprache der Feen. Nicht nur, dass sie alte Lieder und Balladen vorträgt. Sie erfindet auch neue dazu. Sie ist eine Gterbton, eine ›Erfinderin der Schätzen wie meine Mutter es auch war.«
Er schwieg; sein Gesicht war finster und entrückt, und ich nahm die Trauer wahr, die er aus seinem Blick nicht verbannen konnte.
Wie stets, wenn er an seine Mutter dachte oder sie erwähnte, bewegte er sich in einer Art Niemandsland, in jener dämmrigen Zone zwischen den Zeiten, in der Shelos Geist beheimatet war. Doch die düstere Stimmung wich; Kunsangs Gesang klang wieder fröhlich.
Die Menge seufzte glücklich auf, und auch um Atans dunkle Lippen huschte ein Lächeln.
Ein Frösteln überlief mich. Das Lied kannte ich. Mein Vater hatte es gesungen. Ich sagte: »Ich habe das Lied schon früher gehört.«
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Ein uraltes Volkslied, erklärte mir Atan, von dem Heiligen Milarepa zu Ehren des Sommers komponiert. Suggestive Lautmalereien, von denen es in der tibetischen Sprache nur so wimmelte, gaben dem Lied seinen besonderen Rhythmus.
»Am Himmel kreisen südlich Wolken, khor-ma-khor Im Tal plätschert ein Bach, gya-ma-gyu Zwischen den beiden schwebt der Adler, lang-ma-ling.
Bäume schütteln sich im Tanz, shig-se-shigs Die Bienen summen, und khor-ro-ro
Die Blumen duften, und chi-li-li
Die Vögel singen, und kyu-ru-ru.«
Die Zuschauer klatschten, wiegten sich im Takt. Mein Staunen wuchs. Wer war Kunsang? Wer war sie wirklich? Woher nahm sie die Kraft, mit der sie die Menschen betörte? Doch mit all diesen Fragen tauchte eine Erinnerung auf, die mir Unbehagen verursachte.
»Atan, ist es wahr, dass Kunsang unter Beobachtung steht?«
Er nickte.
»Ja. Sie war sogar im Gefängnis.«
Ich starrte ihn an, ratlos und zutiefst erschrocken.
»Davon hast du mir nichts gesagt!«
»Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
Ein paar Atemzüge lang war ich unfähig, etwas zu sagen. Die Illusion, sie sei vielleicht doch in Sicherheit, zerplatzte wie eine Seifenblase. Eine Zeitlang hatte ich mir die größten Sorgen gemacht, danach natürlich weniger. Sie muss ja erwachsen werden, hatte ich mir eingeredet, ich kann ja nicht dauernd auf sie aufpassen. Alles falsch, dachte ich verzweifelt, ich habe versagt. Wie konnte ich nur so blind und taub sein? Nichts von diesen anderen Dingen ahnen?
Endlich fand ich meine Sprache wieder.
»Was ist geschehen, Atan?«
»Sie hat die Arbeiter einer Sägerei zum Streik aufgerufen. Sie sollten keine Bäume mehr fällen. Die Arbeiter haben gesagt, ja, wovon sollen wir denn leben? Der Vorarbeiter hat die Polizei geholt.
Sie wurde festgenommen…«
Ich schloss die Augen.
»Wie lange, Atan?«
»Nicht sehr lange, so viel ich weiß. Irgendwie hat man herausgefunden, dass ihr Vater Chinese war und Nachsicht gezeigt.
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Aber sie steht jetzt auf der schwarzen Liste. Es ist besser, sie erfährt nicht, dass ich es dir gesagt habe«, meinte er, und ich nickte matt.
»Ich werde den Mund halten.«
Irgendwie konnte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass Kunsang jetzt, wo ich sie gefunden hatte, nicht mehr zu mir, zu uns gehörte. Dass sie eine Fremde war, die ihr eigenes Leben führte, getrennt von
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