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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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mir, von uns allen.
    »Sie beherrscht ihre Mittel zu gut«, sagte Atan, als lese er in meinen Gedanken. »Wo Lieder Gefühle wachrufen, kann alles mögliche passieren. Die Chinesen sind da sehr wachsam und lassen sie beschatten. Schnüffler sind überall.«
    »Wo, Atan?«
    Er ließ seine Augen über die Menge wandern.
    »Go-Niba – Kollaborateure – erkennen wir im Allgemeinen ganz gut.«
    »Siehst du welche?«
    »Du kannst nicht spucken, ohne welche zu treffen.«
    Ich wandte den Blick von ihm ab, sah zu Kunsang hinüber. Und bemerkte, dass ihre Augen auf mich gerichtet waren. Wie konnte ich das Gefühl, das mich in dieser Sekunde befiel, anders vergleichen als mit dem Zusammensturz eines großen Gewölbebogens, der mich –
    im Zentrum – aber unversehrt ließ? Sie hatte mich erkannt! Ich bemerkte ein flüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich konnte das Lächeln nicht deuten, es mochte Spott sein. Dann änderte sie kurz ihre Blickrichtung. Ihre Augen sahen zu Atan hinüber, kehrten zu mir zurück, bevor sie sich schroff ab wandte.
    Schellenrasseln und ein kräftiger Trommelwirbel beendeten die Vorstellung. Lachen und Stimmengewirr erfüllten die Luft. Die Zuschauer warfen Münzen und Geldscheine in die Holzschalen der Schauspieler. Den Lamas und den Mönchen wurde frischer Tee eingeschenkt. Im Gedränge wandte ich mich um, doch Atan war gegangen, ohne dass ich auch nur einen Schritt gehört hatte. Und da sah ich sie. Sie stand vor mir; ich erblickte sie wie im Traum. Ihr Gesicht hatte sich verändert; das Zurückhaltende, Unentschlossene in ihrem Ausdruck war verschwunden. Ihr rotgeschminkter Mund wirkte verkniffen, die von schweren Lidern bedeckten Augen standen schräg unter geraden, dunkelbau nachgezogenen Brauen.
    Nach wie vor erschien sie mir als das Rätsel, die Unbekannte, absurd und unverschämt, anmaßend und unerträglich. Und plötzlich wurde mir klar, dass es im Grunde nichts mit der Art zu tun hatte, wie ich 296
    mich verhielt, sondern dass es in ihrer eigenen Natur lag, in ihrem Eigensinn, in ihrer unergründlichen Lebensfremdheit; und dass es wahrscheinlich nichts nützte, in der vagen Hoffnung zu leben, sie eines Tages zu begreifen.
    Um uns herum drängten sich die Schaulustigen, wisperten, zeigten auf Kunsang; manche wurden dreist und zupften sie am Ärmel. Sie schüttelte die Neugierigen kurz ab, ohne ein Wort, ohne einen Blick. In ihrer Holzschale lagen eine Menge Geldstücke. Und nach einer Weile entfernten sich die Leute.
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30. Kapitel

    K unsang sprach als erste; auch ihre Stimme war nicht die, die ich in Erinnerung hatte. Sie war fremd, tief und rau. Man hätte glauben können, sie sei vom Singen müde; aber das war sie nicht.
    Dieser heisere Flüsterton war tatsächlich ihre neue Stimme. Keine Resonanz war darin, kein Ausdruck.
    »Man hat mir gesagt, dass du mich suchst.«
    Ani Wangmo, kam mir in den Sinn. Ja, es musste Ani Wangmo gewesen sein. Ich erwiderte:
    »Ich konnte nicht mehr ruhig leben. Ich machte mir Sorgen um dich.«
    »Um mich?« Sie zog die Silben, als wollte sie fragen, ob ich wahnsinnig sei. Dann lachte sie stoßweise.
    »Du hast immer geglaubt, du bist schlauer als ich, he? Bist du aber nicht.«
    »Nein.«
    »Ich… ich bin sogar berühmt.«
    »Ja, das sehe ich.«
    Auch meine Stimme klang anders als sonst, einen Ton höher als gewöhnlich. Das ärgerte mich, und ich hüstelte.
    »Du kannst wieder gehen«, gab sie kalt zurück. »Ich brauche dich nicht.«
    »Gut. Nächstes Mal, wenn ich wieder in Tibet bin, kümmere ich mich nicht um dich.«
    »Du willst wieder zurückkommen?«
    »Ich denke schon.«
    »Warum?«
    »Weil ich es versprochen habe.«
    »Mir?«
    »Nein, dir nicht.«
    Sie machte einen Schritt vorwärts; ihre Hände umklammerten den Speer, den sie immer noch hielt. Die ruckartige Bewegung musste sie lange geübt haben. Ihre Haltung entsprach vollkommen der eines Mannes. Ich sah in ihr hochmütiges und verdrossenes Gesicht. Atans Worte kamen mir in den Sinn. Es war schon so, dass sie Angst vor mir hatte. Aber diese Gewissheit brachte mir keinen Trost.
    »Ich gehöre hierher!«, sagte sie hart. »Du nicht. Pass auf, was du 298
    tust. Das Leben hier ist nichts für dich.«
    Beinahe hätte ich aufgelacht, doch ein Gefühl warnte mich davor.
    Stattdessen deutete ich auf die Maske, die wie ein Geschmeide auf ihrem staubigen Gewand hing.
    »Sie ist wunderschön. Darf ich sie mal ansehen?«
    Sie nickte.
    »Ein Mönch hat sie angefertigt.«
    Ich nahm die Maske in die

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