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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Katze.
    »Ich dränge mich nicht zwischen dich und ihn.«
    Sie sprach von Atan. Ich fühlte, wie ich mich innerlich versteifte.
    »Weil er es nicht zulässt.«
    »Was weißt du von ihm?«, versetzte sie hochmütig.
    »Mehr, als du glaubst.«
    »Du hast dein Bestes getan«, sagte sie ironisch. »Aber ich bin anders als du. Es gibt ganz besondere Dinge, die nur ich fertigbringe.«
    »Er hat es mir erzählt.«
    Sie nickte. Ihre Brauen waren zu einem finsteren Ausdruck zusammengezogen.
    »Ich sehe… in die Leute hinein. Wenn ich singe, zeige ich ihnen Dinge, die sie keinem erzählen. Sie sollten doch glücklich dabei sein, he? Manche sind es auch, andere überhaupt nicht. Aber ich kann nichts dafür. Bei mir kommt das ganz von selbst. Ich habe keinen Trick, wirklich nicht.«
    »Das ist mir schon klar.«
    Sie blinzelte mir über den Rand der Schale zu. Ihr Ausdruck war sehr eigenartig, verzweifelt oder verschlagen, vielleicht auch beides zusammen.
    »Ich zeige Gespenster, weil ich meine nicht sehen will.«
    »Böse Träume hat jeder«, erwiderte ich, betont ruhig.
    Sie hatte ziemlich rasch getrunken, und ihre Wangen glühten.
    Doch sie zog die Schultern hoch, als ob sie fröstelte.
    »Es ist kein Traum. Auch kein Spiel. Es ist natürlich.«
    »Natürlich?«
    Sie nickte lebhaft.
    »Jeder erinnert sich an früher. Das ist normal. Ich bin nicht normal. Als ich noch klein war, da fürchtete ich mich sehr. Aber mein Großvater sagte, du darfst keine Angst haben.«
    Der Chang machte mich benommen. Ich putzte mir die Nase.
    »Hast du mit ihm darüber gesprochen? Das wusste ich nicht.«
    »Doch. Auch er sah viele Dinge. Er ging an viele Orte, hier oben 301
    im Kopf.«
    Sie zeigte auf ihre Stirn. Ich ließ sie nicht aus den Augen. Ihr Mienenspiel faszinierte mich.
    »Ich weiß.«
    Sie nahm einen Schluck, wobei sie kicherte. Sie hatte wieder diesen überheblichen Ausdruck im Gesicht.
    »Musik weckt Gefühle, he? Und mit den Gefühlen kommen Bilder. Da wird eine richtige Geschichte erzählt. Manche sind traurig; es kommt sogar vor, dass ich weine. Aber ich mache weiter, weil mich das interessiert.«
    Zwischen uns hatte sich eine Unbefangenheit eingestellt, wie sie zuvor nie gewesen war. Vermutlich hatte sie mehr erlebt, als ihr Herz ertragen konnte; das hatte sie stark gemacht. Meine Lage verbesserte sich nicht dadurch – im Gegenteil. Wozu war ich eigentlich in Tibet? Es war ihre vermeintliche Schwäche, die mich gerufen hatte.
    Ich hielt meine Schale in der Hand, ohne aus ihr zu trinken. Ich wollte klaren Kopf bewahren.
    »Seit ich hier bin, habe ich einiges über dich erfahren. Atan macht sich Gedanken um dich.«
    Sie kräuselte verächtlich die Lippen.
    »Ich tanze und singe Volkslieder. Was ist schon dabei?«
    »Nichts. Aber du kannst deinen Mund nicht halten, wenn es um Politik geht. Es ist gefährlich.«
    »Nicht für mich.« Sie zeigte ein schlaues Lächeln. »Atan ist jetzt ein alter Mann, he? Früher hatte er mehr drauf.«
    Ich antwortete so ruhig wie möglich.
    »Ohne Atan wärst du jetzt in China. Schon vergessen?«
    Röte überzog ihre Wangen. Sie war eben doch noch sehr jung.
    »Glaube nicht, dass du ihn besser kennst als ich. Er will, dass sich die Dinge hier ändern. Ich auch. Wir denken dasselbe. Wir wollen nicht, dass die falschen Leute gewinnen.«
    Ich holte tief Luft.
    »Kunsang, so viel ich weiß… war dein Vater…«
    Sie zuckte zusammen und sah mich an, mit wild flackerndem Blick. Ihre Stimme wurde plötzlich schrill.
    »Sag es nicht! Ich will es nicht hören! Meine Amla… Sie hat nie gewollt… sie hat doch nie gewollt… «
    Ihre Hände zitterten. Einige Tropfen Chang rollten über die Jägermaske, die noch immer an der Schnur um ihren Hals hing.
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    Ich sagte, jedes Wort betonend:
    »Ist das dein Gespenst, Kunsang? Die Sache, die du nicht sehen willst?«
    Sie hob das Gesicht zu mir empor. Ihre tränennassen Augen blickten scharf aus zusammengezogenen Pupillen. Ihr Mund öffnete sich ein wenig. Sie flüsterte: »Ob mein Vater lebt oder nicht, ist mir scheißegal. Aber meine Amla ist tot, und nachts rede ich mit ihr. Sie bleibt nicht draußen, nein, sie kommt, wenn ich sie rufe. Nach jedem Auftritt frage ich sie: Nun, wie hat es dir gefallen? Vollkommen durchgeschwitzt bin ich dann, betrunken und müde. Gut, sagt sie jedesmal. Mir gefällt, wie du singst. Dabei sehe ich sie ganz deutlich, ich glaube sogar, dass ich sie rieche. Ich erinnere mich an ihr Parfüm. Es duftete nach Lotus, das weiß ich noch

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