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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Herz aus dem Takt brachte.
    War die Rede davon gewesen, dass er wieder gehen würde? In diesen paar Stunden wohl kaum. Kommen und gehen – wir waren beide zu vernünftig, zu erfahren, um das gewohnte Theater zu spielen. Und da die Liebe nicht etwas war, was wir noch kennenlernen mussten, ergab sich zwangsläufig Übereinstimmung.
    Die meiste Zeit verbrachte Atan bei seinem Hengst. Von der Beziehung eines Reiters zu seinem Pferd und den verschiedenen Trainingsmethoden verstand ich kaum etwas, und ich glaube auch nicht, dass Atan die üblichen Techniken anwandte. Ich dachte, er wird schon wissen, was er tut, und ließ ihn gewähren. Die Fragen kamen von Kunsang.
    »Onkel Atan, wann bringst du mir das Reiten bei?«
    Er antwortete ihr, wie stets, mit Freundlichkeit und Nachsicht.
    »Noch nicht.«
    »Bald?«
    »Du musst Geduld haben. Das Pferd hat noch Angst. Wenn es mein Freund ist, wird es auch deiner sein. Aber jetzt ist es noch zu früh.«
    »Wann ist es soweit, Onkel Atan?«
    »Wenn es Salz aus meiner Handfläche nimmt. Dann sind wir Freunde.«
    »Musst du das Pferd zuerst einreiten?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nein. Freundschaft muss gemeinsam erlernt werden. Das braucht Zeit.«
    »Woher weißt du diese Dinge?«
    Ich hatte Atan Tee eingeschenkt. Er hielt die Schale mit beiden Händen, den Blick auf das Mädchen gerichtet, und antwortete nach einem Schweigen.
    »Das ist eine lange Geschichte. Sie ist mit der Geschichte Tibets verbunden. Doch wenn ich sie dir erzähle, musst du zuhören, auch wenn du sie nicht ganz verstehst. Wenn du einmal erwachsen bist, wirst du sie deinen Kindern erzählen, und an manches wirst du dich erinnern.«
    Während er sprach, schlug die große Klostertrommel; die Mönche waren bei der Andacht. Ihre Stimmen sanken und stiegen im vertrauten Rhythmus. Der Gesang erzeugte ein gewaltiges Dröhnen, das noch im Boden unter unseren Füßen zu spüren war, eine 40
    Harmonie, die man nicht mehr hörte, sondern mit dem Körper wahrnahm. Unser Leben wurde von diesem Trommelschlag regiert, von diesen friedvollen Stimmen, die uns beruhigten und verzauberten. In Lhasa, dachte ich, verkünden Lautsprecher die Uhrzeit Beijins, erinnern jeden an den Ablauf der Stunden, an die damit verbundenen Pflichten. Hier, im Exil, dröhnte die Trommel wie der Schritt der nahenden Götter, deren Zeit nie die Zeit der Menschen sein kann. Ihre mächtige Stimme tröstete und segnete, forderte nichts, schenkte Zuversicht und Kraft.
    »Es begann unter Songtsen Gampo«, sagte Atan.
    In ganz Tibet, selbst in den entlegensten Dörfern, gab es keinen Menschen, der diesen Namen nicht kannte. Kunsangs Augen, in denen sich das Licht spiegelte, wurden noch größer; mir wurde plötzlich bewusst, wie schön diese Augen waren. Das Weiß schimmerte bläulich, die Brauen waren sehr dunkel und liefen in Spitzen aus. Ihre hellgoldene, glatte, klare Haut erinnerte an Elfenbein. Ihre Lippen waren groß, aber die wohlgeformte Nase zeigte einen Schwung, der Willensstärke, wenn nicht Härte verriet.
    Doch nun, in diesem Augenblick, zeigte ihr Gesicht nur kindliche Erwartung und Spannung. Er nickte ihr zu. Ich stellte mir das große Glück vor, das lebendige Gefühl, das ihn dabei erfüllte. Ja, dachte ich, für einen Menschen wie ihn muss es eine wesentliche Genugtuung sein, ein wenig von seinem Wissen diesem hingegeben lauschenden Kind mitzuteilen, so dass auch dieses Kind später jene Geschichte weitererzählen kann und sie niemals vergessen wird.
    »Vor Tausenden von Jahren schon«, sagte Atan, »trieben meine Vorfahren, die großen Nomaden, ihre Herden zu den Sommerweiden des nördlichen Himalaya hinaus. Sie waren Krieger, die im Sattel lebten und im Sattel starben. In ihren geheimen Werkstätten fertigten sie Säbel und Lanzen an, später auch Gewehre. Ursprünglich waren sie vier Stämme, die ›vier großen Familien, die im Laufe der Zeit alle Hochtäler eroberten und vierzig unabhängige Königreiche gründeten. Der 33. König des Yarlung-Tales, Songtsen Gampo, vereinigte alle diese Königreiche. Er nannte sein Reich Tubo. Das Reich Tubo erstreckte sich im Süden über den Himalaya bis ins Ganges-Delta. Im Westen reichte es bis Samarkand in Turkestan, im Norden bis zur Seidenstraße. Meine Vorfahren trugen die Liebe zum Pferd in alle eroberten Länder. Bis auf den heutigen Tag wird diese Freundschaft zwischen Pferden und Menschen unverändert gelebt.
    Wir sind Reiter geblieben, gewohnt zu galoppieren, so weit der 41
    Vogel

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