Die Tochter der Tibeterin
fliegt, und noch weiter. Deswegen scheren wir uns nicht um Grenzen. Für uns ist die Erde flach: hier wie dort bedeckt sie der gleiche Staub, der gleiche Schnee, das gleiche Gras. Die Freiheit von einst, weder die Menschen noch die Pferde werden sie jemals vergessen.«
»Hast du immer ein Pferd gehabt, ein eigenes?« Er nickte, den undurchdringlichen Blick in die Ferne gerichtet. »Ja, ich habe immer ein Pferd gehabt, genauso wie meine Eltern, meine Groß- und Urgroßeitern. Und auch später noch, als der Krieg ausbrach und ich kämpfen musste. Ich habe es stets wie meine Ahnen gehalten, mit dem gleichen Glück, dem gleichen Missgeschick und der Erfahrung langer Jahre…«
Kunsang hob plötzlich die Augen zu ihm auf, und ich entdeckte auf dem eigensinnigen und stolzen kleinen Gesicht ein bescheiden verhaltenes Zögern.
»Und Rongpa?«
Atans Blick kehrte zu Kunsang zurück. Auf seinen Lippen zeigte sich ein leichtes Lächeln.
»Rongpa verdanke ich dir. Das werde ich nie vergessen.«
Sie nickte ernst.
»Ich habe zu ihm gesungen.«
»Gesungen?«, murmelte Atan.
Sie nickte. »Ja. Ich habe mich ins Gras gesetzt und zu ihm gesungen. Zuerst hatte das Pferd Angst. Shastra hat es geschlagen.
Ich weiß es, ich habe es gesehen. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, wurde er böse, jagte mich mit Steinen davon. Aber ich kam immer wieder. Ich versteckte mich in den Büschen und sang für das Pferd. Ich denke, dass es ihm gefallen hat. Einmal kam ich ganz nahe, so nahe, dass ich die Wimpern seiner Augen sehen konnte. Es beschnupperte mein Haar, ich hatte keine Angst. Da kam Shastra, stieß mich so heftig zurück, dass ich stolperte und fiel. Und am nächsten Tag hatte er das Pferd so fest angebunden, dass es sich kaum von der Stelle rühren konnte. Es litt große Schmerzen; aber als ich ihm etwas vorsang, beruhigte es sich.«
»Was hast du ihm denn vorgesungen?«, fragte ich.
Sie schlug die Augen nieder; ihre Wangen glühten plötzlich.
»Ach, einfach nur Worte, die ich erfand, Khra-la-la, immer wieder Khra-la-la… Das schien ihm zu gefallen.«
Atan blickte Kunsang fest ins Gesicht.
»Mit diesen drei Silben drücken wir in unserer alten Sprache das 42
Geräusch der Hufe aus. Woher hast du es gewusst, Kunsang?«
Sie zog eine kleine Grimasse, gleichsam schuldbewusst und schalkhaft.
»Ich weiß es nicht. Ich habe es bloß erfunden…«
Atan schüttelte den Kopf.
»Solche Dinge sind schon lange vor dir erfunden worden.«
»Sie muss sie irgendwo aufgeschnappt haben«, warf ich ein.
Er nickte, langsam und bedächtig.
»Unsere Lieder sind sehr alt. Ganz am Anfang war es der Mensch selber, den man in Musik verwandelte. Ich will’ damit sagen, dass man Flöten aus Menschenknochen und Trommeln aus der Haut der Gefangenen machte. Man glaubte, dass der Mensch ständig von Dämonen bedroht sei, die man nur durch besondere Opfer besänftigen konnte. Später erfand man Flöten aus Rohr, und auf die Trommel wurden Tierhäute gespannt. Das heiligste aller Instrumente war das Muschelhorn. Es erklang, wenn Gefahren drohten, wenn die Berge ihr Opfer forderten, wenn Lawinen ins Tal donnerten oder die Geister ihre Macht durch Blitz und Donner zeigten. Die Mönche verwenden es noch heute.«
»Warum?«, fragte Kunsang.
»Nun, man sagt, dass einst, lange bevor die Menschen die Erde bevölkerten, der Himalaya das erste Meer unseres Planeten war.
Vielleicht tragen wir noch in uns die Erinnerung an dieses Meer, das keines Menschen Auge je gesehen hat. Die Muschelhörner gedenken dieser Zeit; sie werden dem Mond zugeschrieben, der die Gewässer steigen und fallen lässt. Früher waren es die Frauen, die mit Muschelhörnern die Geister riefen. Die Muschel war das heilige Zeichen der Frau, die menschliche Substanz schlechthin. In der Muschel zeigt sich die Fruchtbarkeit, die aus dem Tod entsteht, der ewige Kreislauf der Dinge. Damals ließ der Mensch das Wertvollste erklingen, was er besaß: den Geist seines eigenen Ursprungs. Und am Ursprung des Lebens steht die Frau. Sie bringt ja das Kind zur Welt und bestattet die Toten. Jedenfalls war es früher so. Es gibt sogar ein Lied:
Ich bin Sohn des großen Fischers, der zitternden Welle.
Die Meer-Mutter gebar mich, meine Augen waren offen.
Ich schlief meine Kinderjahre im tiefen Wasser.
Als ich erwachsen wurde, führte ich alle Fische.
Großer Fisch, schwimm jetzt durch den Ozean, 43
Schwanke nicht in den tiefen Wellen,
Fürchte nicht des Fischers Netze.«
Von Atans tiefer,
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