Die Tochter der Tibeterin
fast flüsternder Stimme ging eine seltsame Kraft aus. Kunsang starrte ihn an, völlig in seinen Bann gezogen.
Schließlich zuckten ihre Lippen, als ob sie ihre Tränen zurückhielte.
»Woher kennst du dieses Lied?«
Ihre Frage schien ihn nicht im geringsten zu überraschen. Fast war es, als habe er darauf gewartet – und das genau in dem Augenblick, da Kunsang sie stellte. Der staunende, naive Eifer des kleinen Mädchens schien Erinnerungen in ihm zu wecken, die tief verschüttet waren: Erinnerungen an seine Kindheit, an die versunkene Welt. Ich wurde unruhig. Die Schatten der Vergangenheit suchen, wozu mochte das gut sein? Doch Atan antwortete ganz ruhig:
»Ich lernte es von meiner Mutter.«
»Kannte sie viele Lieder?«
»O ja, Hunderte von Liedern! Manche wurden vor langer Zeit verfasst, von einer Generation zur anderen überliefert. Viele dachte sie sich selbst aus. Für mich waren das die schönsten. Man sagte von ihr, dass sie ›die Geistertrommel ritt‹.«
Kunsang beugte sich leicht vor. Ihre Augen füllten sich mit Neugierde. In Kunsangs Welt hatte es keine Geister gegeben, weder gute noch böse; ihre Erziehung war auf zweckmäßige, auf praktische Dinge gerichtet. Ani Wangmos Geschichten waren nichts als Ammenmärchen und hatten ihr bald keinen Spaß mehr gemacht.
»Wie brachte sie das fertig?«
»Sie schlug die Trommel und ließ ihren Geist wandern.«
Kunsang saß still da, mit unbewegtem Gesicht. Ich betrachtete sie und wartete. Nach einer Weile sagte sie:
»Kann ich das auch lernen?«
Atan griff nach einer Zigarette und zündete sie an.
»Als ich ein Kind war, kamen oft wandernde Gaukler nach Kham. Immer unterwegs, ohne Ziel. Sie ehrten den heiligen Thangtong Gyalpo, der – wie die Legende sagt – als alter Mann zur Welt kam, weil er hundert Jahre im Leib seiner Mutter verbracht hatte. Es gab kein Dorf, keinen Landflecken, und sei er auch noch so abgelegen, wo sie nicht zumindest einmal gewesen waren. Sie kamen mir seltsam und fremdartig vor, obwohl wir vom gleichen Blut waren: Unsere Vorfahren, die Eroberer der Steppen, waren aus 44
dem nördlichen Asien eingedrungen. Wir sprachen die gleiche Sprache. Nicht anders als ihre Kinder hatte ich reiten gelernt, noch ehe ich zu laufen begann. Und für sie, wie für mich, gab es nichts Schöneres als ein edles Pferd. Die Gaukler erfanden Lieder für sie, rühmten ihre Kräfte, ihren Mut, ihre Ausdauer, ihre Geschicklichkeit. Es gab Lieder, die sie zum höchsten Galopp anspornten, oder solche, die sie beruhigten, wenn sie Angst oder Schmerzen hatten. Viele dieser Lieder waren geheim; ich aber hatte mit den Kindern der Gaukler Freundschaft geschlossen. Teils waren sie aufrichtig, teils selbstsüchtig, weil meine Mutter Clanführerin war und eine sehr mächtige Frau. So kam es, dass sie mir einige Lieder beibrachten, die ich bis heute nicht vergessen habe. Ich mache es wie du, Kunsang, ich singe für Rongpa, um ihn zu heilen. Ich glaube, dass es mir wohl gelingen wird. Aber ich brauche Zeit.
Rongpa traut nicht jedem.«
»Dir auch nicht, Onkel Atan?«
»Doch, mir traut er schon… meistens.«
Sie blickte ihn an, forschend und etwas ängstlich.
»Ob er auch mich mag?«
Der Schatten eines Lächeln glitt über sein Gesicht.
»Nun, ich nehme an, er mag dich. Wenn du für ihn singst…«
Sie lächelte erleichtert.
»Ich werde noch oft für ihn singen. Und ich freue mich sehr, dass er mich mag. Ich weiß ja, er mag kaum jemanden.«
Anfangs wollte Atan nicht, dass wir dabei waren, wenn er sich mit dem Pferd beschäftigte. Erst nach einigen Wochen willigte er ein, dass Kunsang und ich ihn begleiteten. Das war die Zeit, als er das Pferd bereits an der Leine führte. Ich traute meinen Augen nicht, als ich Rongpa wiedersah, und Kunsang war außer sich vor Freude.
Das schmutzige, erschrockene Tier hatte sich in einen prachtvollen Rappen verwandelt. Das Geschwür hatte sich vollständig zurückgebildet. Rongpas Fell glänzte, die Augen blickten klar. Atan hatte das Pferd stufenweise an gewisse Übungen gewöhnt: Es ging ganz ruhig, blieb gleichzeitig mit Atan stehen und setzte sich im selben Atemzug wie er wieder in Bewegung. Ich hatte nichts gesehen – weder Handzeichen noch Blickkontakt. Es war, als ob Mann und Tier sich im Mittelpunkt eines magischen Kreises bewegten; kein Einfluss von draußen konnte sie berühren.
»Er ist hochsensibel«, sagte Atan, und aus seiner rauen Stimme sprach Zärtlichkeit. »Ich möchte ihm nicht aus Eile oder
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