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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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    Gedankenlosigkeit etwas beibringen, was seiner Natur widerstrebt.
    Wenn Rongpa sein volles Pferdeleben lebt und die Geister es erlauben, werde ich ihn bis an mein Lebensende reiten.«
    Es war selten, dass Kunsang lächelte. Jetzt strahlte sie geradezu.
    »Onkel Atan, wann darf ich ihn denn reiten?«
    Er streifte sie mit einem fernen Blick, als ob er ihre Frage nicht richtig beachtet hätte.
    »Wir werden sehen.«
    »Bald?«
    »Möglich«, sagte er.
    Eine Reihe von Tagen, über die es wenig zu berichten gibt, erleichterte mir damals meine Tätigkeit im Krankenhaus. Und gleichwohl erinnere ich mich an diese Zeit mit einem Gefühl von Wehmut – und auch einer gewissen Eifersucht. Es gab eine Übereinstimmung zwischen Kunsang und Atan, ein besonderes Verstehen zwischen einem Kind und einem Erwachsenen, der schon lange aufgehört hatte, Kind zu sein. Und die wenigen Male, als ich zusah, wie Kunsang reiten lernte, spürte ich diese Gefühle sehr deutlich. Sie mochte es nicht, wenn ich dabei war. Anfangs war sie gehemmt, wohl auch kühl; erst allmählich gelang es ihr, meine Anwesenheit zu vergessen. Dann lockerte sich ihre Haltung, und ihre Bewegungen wurden geschickt.
    Kunsangs schmales, sonnengebräuntes Gesicht zeigte jene leuchtende Begeisterung, die ihren ganz persönlichen Zauber ausmachte. Sie saß gut zu Pferd; das Tier schien ihren Signalen zu gehorchen, ebenso wie es Atans Befehle vernahm. Kunsangs Blick blieb ernst, aber es war der subtile, aufmerksame Ernst eines Menschen, der eine Einsicht gewinnt, die außerhalb des puren Begreifens liegt. Wahrscheinlich würde das Leben für sie schwieriger werden, als ich es mir anfangs vorgestellt hatte. Wenn ich sie mit Atan reiten sah, überkam mich die Freude über etwas vergänglich Schönes, wie der erste duftige Hauch im Frühling schon die Schwermut des reifenden Sommers in sich trägt. Ich misstraute meinen Sehnsüchten, denn auch in der Liebe ist kaum etwas von Dauer. Atan war geblieben, weil er ein Versprechen gegeben hatte.
    Und was dann? Du darfst dir nichts vormachen, du Närrin. Nicht jeder ist für das Dauerhafte geschaffen. Er wollte nach Tibet zurück; wir hatten darüber gesprochen, und er hatte es ohne Umschweife zugegeben.
    »Tausende von Han-Chinesen werden nach Tibet umgesiedelt, 46
    damit Kultur und Gesellschaft endgültig ›sinisiert‹ werden. Im Grunde sieht es die chinesische Regierung nicht ungern, wenn wir unser Land verlassen. Denn je mehr Tibeter ins Ausland gehen, desto mehr können die Chinesen tun und lassen, was sie wollen. Und trotzdem werden Menschen, die für sich und ihre Kinder in der eigenen Heimat keine Zukunft mehr sehen, daran gehindert, ein besseres Leben in der Fremde zu suchen.«
    »Jeder Mensch hat das Recht zu wählen, was für ihn gut ist«, sagte ich. »Das genau ist Freiheit.«
    China war grausam gegen alle, die aufbegehrten, nicht nur gegen die Tibeter, sondern auch gegen Oppositionelle im Mutterland. Man hatte sich in die Schablone zu fügen.
    »Manche begnügen sich damit zu kritisieren«, sagte Atan. »Sie bellen, aber nur durch einen Maulkorb. Die, auf die es ankommt, setzen ihr Leben aufs Spiel. Ich denke viel an sie, eigentlich immerzu. Zu wissen, was mit ihnen im Gefängnis geschieht, raubt mir den Schlaf.«
    »Kannst du etwas für sie tun?«
    »Ich habe ein wenig Erfahrung und kann in manchen Fällen nützlich sein.«
    Ich schluckte und sagte: »Ich habe viel gelernt von dir.«
    »Und ich von dir«, erwiderte er schlicht.
    »Ach, was nützt mir das?«, rief ich bitter aus. »Ich verstehe nicht, dass ich an einen Menschen, der so anders ist als ich, so sehr gebunden sein kann. Aber mach dir keine Gedanken, solche Dinge muss jeder allein durchstehen. Wann gehst du?«, setzte ich hinzu, um die Sache endgültig zu klären.
    »Ich muss vor den Schneefällen über die Pässe.«
    »Warum hast du es mir nicht schon früher gesagt?«
    »Denke nicht, dass mir wohl dabei war. Aber ich wollte dich nicht verletzen. Es tut mir Leid.«
    Ich durfte ihm keinen Vorwurf machen, nur mir selbst. Er suchte genau wie ich etwas, was seinem Leben einen Sinn gab. Nur suchte er es auf andere Art.
    »Ich habe immer gewusst«, sagte ich leise, »dass du es nicht lange hier aushalten würdest.«
    »Und du?«, fragte er. »Was sind deine Pläne?«
    »Es ist möglich, dass ich zurück in die Schweiz fahre. Meine Eltern werden alt. Sie brauchen mich.«
    Er starrte an mir vorbei, geistesabwesend.
    47
    »Es ist besser, dass Kunsang Nepal

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