Die Tochter der Tibeterin
verlässt. Sie macht eine schwere Zeit durch.«
»Kunsang?«, rief ich überrascht. »Was ist denn mit ihr?«
An Kunsang hatte ich nicht gedacht. Sie stand so wenig im Mittelpunkt meiner Gedanken, dass sie gar nicht so unmittelbar wichtig auf mich wirkte. Aber vielleicht war es ein Fehler gewesen.
Sein Blick kehrte zu mir zurück. Er runzelte die Brauen.
»Ich habe sie in letzter Zeit scharf beobachtet. Es ist notwendig, dass sie von hier fortkommt, und zwar rasch. Glaube mir, Tara, ich weiß genau, was ich sage. Bald wird es zu spät sein. Wir werden nie erfahren, was für ein Mensch ihr Vater war, aber ich kann es mir denken, und du auch. Sie hat schon viel Übles gesehen. Zu früh und zu sehr aus der Nähe.«
Ich war sehr erschrocken und beunruhigt.
»Wie meinst du das, Atan?«
Er schwieg einen Augenblick, mit einer gewissen Verwirrung, wie mir schien.
»Es ist schwer zu erklären«, meinte er dann. »Sie lebt mit einem doppelten Ich.«
»Wie Schizophrenie?«
»Sie neigt zu Charaktereigenschaften, die sich widersprechen. Ich denke, dass gewisse Mächte in ihr wirken, wie damals auch in meiner Mutter. Aber Kunsang leidet. Das kann zu Feindseligkeiten gegen alle, die sie liebt, führen. Es könnte schlecht enden mit ihr. Du musst auf sie aufpassen, Tara.«
Während er das sagte, wurde ich von dem nahezu körperlichen Gefühl einer drohenden Gefahr befallen. Und doch, es traf mich nicht vollkommen unvorbereitet. Kunsang war zu schrillen Gegensätzlichkeiten in ihren Gedanken und Überlegungen fähig, die ich zwar bemerkt, aber bisher kaum beachtet hatte. Und sie würde nicht mehr lange ein Kind sein. Es ist nicht leicht, zwischen zwei geistigen Welten zu leben, wenn die eine bereits verblasst, die andere noch keine festen Konturen angenommen hat.
»Der Tod ihrer Mutter? Die Flucht?«, murmelte ich.
»Es ist alles zusammen«, sagte Atan. »Es ist ihre übermäßige Spannkraft, die Leidenschaft in ihr. Du darfst keine Zeit mehr verlieren. Bald wird es zu spät sein.«
»Hast du mit ihr darüber gesprochen?«
Ein bitteres Lächeln zog über seine Lippen.
»Sie möchte mit mir nach Tibet gehen. Sie träumt von einer 48
Welt, die es nicht mehr gibt. Ich kann ihr diese Welt nicht zeigen.
Aber sie bildet sich ein, dass ich es vermag. Und sie tut alles, um sich durchzusetzen.«
Ich schwieg. Da war es wieder, dieses merkwürdige Gefühl, das der Eifersucht nahekam! Ich wusste nicht, was los war, brauchte Zeit, um diese neue Entwicklung zu verkraften. Meine Welt brach auseinander, aber ich wollte nicht zusehen, wie alles in Scherben ging. Irgendwie musste ich die Stücke zusammenflicken. Und da ich nicht wusste, wie, lachte ich eine Spur zu nervös und sagte:
»Gib nichts darauf, Atan! Sie ist zwölf und hat ihre Launen.«
Am Abend setzte ich mich zu Kunsang, die bereits unter ihrer Steppdecke lag, und sagte zu ihr:
»Du hast Großeltern, eine Familie. Möchtest du sie nicht kennenlernen?«
Sie sah mich interessiert an.
»Ja, doch. Vielleicht können sie uns besuchen?«
»Ich dachte eher, dass wir zu ihnen in die Schweiz reisen könnten.«
»Wie lange denn?«, fragte Kunsang.
»Lang genug, damit du dort zur Schule gehst und nette Freundinnen findest.«
Das Gesicht des Mädchens, eben noch zutraulich, verschloss sich im Nu, wurde abweisend und hart.
»Denkst du auch, dass es für mich sehr viel besser wäre, wenn ich wegginge?«
»Atan meint wie ich, dass du hier nicht weiter leben kannst. Wir werden da etwas tun müssen.«
Kunsang, deren Gesicht ganz blass geworden war, richtete sich halb auf.
»Ich weiß genau, warum er das sagt. Ich will mit ihm zurück nach Tibet, und er wehrt sich dagegen.«
»Er hat recht!«
»Überhaupt nicht! Er hat Angst um mich, sagt er. Aber warum denn nur? Ich bin stark! Erinnerst du dich, wie wir über die Pässe kamen? Als es so kalt war und mir die Füße fast eingefroren sind?«
»Das war schlimm genug.«
»Aber ich habe es geschafft! Und ich spreche fließend chinesisch, genau wie eine Chinesin es tun würde.«
»Warum willst du unbedingt mit ihm reisen?«
Sie errötete plötzlich.
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»Ich liebe ihn.«
Der feine Schmerz, der schon einige Male in mir aufgestiegen war, fuhr wieder in meine Brust, nur dass er nicht gleich wieder verging. Es war auch kein richtiger Schmerz, eher eine Bangigkeit vor dem eigentlichen Kummer, der noch kommen würde. Doch gleichzeitig konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen und bedachte sie mit einer tibetischen Redensart,
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