Die Tochter der Tibeterin
was für einem Geheimnis redest du, Pala?«
Er flüsterte rau:
»Sie war schon früher eine Sängerin. Vor langer Zeit…«
Wieder überlief es mich kalt. Atans Worte kamen mir in den Sinn: »Sie wurde zum Gesang geboren.« Damals war Kunsang noch ein Kind gewesen, jetzt war sie eine junge Frau. Und doch hatten beide Männer etwas von ihrem früheren Leben gespürt, das so ganz andersartig gewesen sein mochte als ihr jetziges Dasein. Warum spürte ich nichts davon? Setzte sich mein Bewusstsein andere Prioritäten? Die Sache mit Kunsang versetzte mich in Aufruhr. Ich mochte keine Aufregung; sie lenkte mich vom Wesentlichen ab.
Palas Augen fielen zu; das Gespräch hatte ihn erschöpft. Ich zog die Steppdecke bis zu seinem Kinn, ließ die Nachttischlampe brennen und ging in die Küche. Amla kochte das Abendessen und Kunsang saß am Küchentisch und putzte Gemüse. Sie sah kurz auf, als ich kam, und senkte sofort wieder die dichten Wimpern. Woher kam ihr Misstrauen? Ich fühlte mich ihr gegenüber hilflos. Kunsang gehörte zu jener Sorte Menschen, deren mürrisches Schweigen einer fröhlichen Tischrunde die Laune verderben konnte. Woher sie das hatte, wusste ich nicht. Ich hoffte, dass es sich bessern würde. Es war nicht meine Art, den Dingen aus dem Weg zu gehen. Ich setzte mich zu ihr und sagte geradeheraus:
»Kunsang, warum willst du, dass dein Großvater dir vorsingt?
Das strengt ihn doch nur an!«
Kunsang warf mir einen langen, kühlen Blick zu. Sie antwortete 73
widerstrebend.
»Ich mag seine Lieder.«
»Er gibt sich große Mühe mit dir. Wenn es nur Zeitvertreib für dich ist, solltest du ihn in Ruhe lassen. Es geht ihm nicht gut.«
Sie fuhr fort, Petersilie zu hacken, mit heftigen Bewegungen. Ich blickte auf das kleine Schnittmesser in ihrer Hand; sie hält es wie eine Waffe, ging mir durch den Sinn. Und gleichzeitig fiel auf, wie schön ihr langer Hals aus dem runden Pullover ragte, wie fein und geradlinig die Fransen ihrer im Halbrund geschnittenen Haare über den hartnäckig gesenkten Augen lagen. Deutlich nahm ich ihren starrköpfigen Vorsatz wahr; auf meine Bemerkungen nicht einzugehen. Es war schon so, dass sich sogar Erwachsene in ihrer Gegenwart unsicher, aufdringlich, ungeschickt vorkommen mussten.
Plötzlich sprudelte es aus ihr hervor:
»Ich will alle Lieder von ihm lernen! Alle! Und ich werde kein einziges vergessen!«
Ruckartig hob sie den Blick. Ich zuckte ein wenig zusammen.
Unsere Augen hielten für kurze Zeit einander fest. Warum liebt sie diese Lieder? dachte ich, mit flüchtigem Erstaunen. Sie singen von fernen Zeiten, von einem Land, das in der bewegungslosen Sommerhitze brütete, in der Eiskälte des Winters erstrahlte, wie vor tausend Jahren. Ein Land jedoch, das seine Vergangenheit nur noch erträumen konnte. Man hatte einer Kultur die Wurzeln ausgerissen, ihr ein fremdes Denken, eine fremde Geschichte gewaltsam aufgepfropft. Mit den Erinnerungen eigener Phantasien vermag die Vergangenheit aufzuleben; doch man kann auch die Flügel der menschlichen Phantasie stutzen, bis alle Träume sich auflösen. Ich wusste nicht, ob Kunsang eine Meinung darüber hatte. Ob ihre Einbildungskraft noch stark und lebendig war, oder ob sie nur noch verblichene Projektionen ohne jeden Sinn erlebte – ausdruckslose Traumbilder einer entwurzelten Heimatlosen. Doch die einzige Frage, die mir dazu einfiel, war eine völlig konkrete:
»Alles schön und gut, aber was willst du damit anfangen?«
Sie hob die Augen, schaute mich an, geradezu durch mich hindurch. Es war ein Blick, der mir unheimlich war. Denn es war durchaus kein drohender Blick, sondern ein unsicherer. Sie saß da und versuchte, etwas zu sagen, aber brachte es nicht über die Lippen.
Als ob sie unversehens feststellen musste, dass sie ihre Gedanken nicht ausdrücken konnte, weil ihr schlicht und einfach die Worte fehlten. Ich aber war mit meiner Geduld beinahe zu Ende und sagte 74
ungehalten:
»Nun?«
Endlich antwortete sie, sehr leise:
»Ich weiß es nicht.«
Und das war alles.
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7. Kapitel
Z wei Monate später, im Oktober, starb mein Vater. Freunde und Verwandte brachten Opfer vor dem Hausaltar dar, spendeten Geld für gute Zwecke; die Verdienste kamen dem Verstorbenen zugute.
Mein Vater wurde eingeäschert. Tenzin vollzog die erforderlichen Handlungen und erklärte die ersten Visionen, die der Verstorbene im Jenseits haben würde. Im Buddhismus stellt der Tod kein endgültiges Ende dar, sondern ist ein Tor zur
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