Die Tochter der Tibeterin
nächsten Reinkarnation. Der Tod unterbricht die Lebenskette nicht, das war für alle ein besonderer Trost.
Wenn ein Mensch gestorben ist, gedenkt man in erster Linie seines Lebens. Man sprach von Tashis Freundlichkeit und Güte, wie sanftmütig er stets gewesen war, und wie seine Gegenwart manchen Streit schlichtete. Man lobte seinen gleichmütigen Charakter und die große Geduld, mit der er seine Krankheit ertragen hatte. Das Schicksal, das ihm ein Leben als Flüchtling fern seiner Heimat beschert hatte, wurde nur verhalten beklagt, denn schließlich waren es nur die Allerweisesten und die Einfältigen, die sich nicht umstellen konnten.
Unser Glaube lehrt, dass jeder Mensch seinem Karma – seiner Bestimmung – untersteht, und dass jedes Schicksal von Ursache und Wirkung geprägt ist. Traditionsgemäß trauerten wir neunundvierzig Tage lang. An jedem siebten Tag wurde ein besonderes Gebet gesprochen. Dann setzte ein Essen, an dem wir alle teilnahmen, der offiziellen Trauerzeit ein Ende. Das Zimmer des Verstorbenen wurde ausgeräumt, seine Kleider wurden verschenkt, seine Wertsachen an die Hinterbliebenen verteilt. Mein Vater besaß kaum etwas Wertvolles, außer einigen alten Thankas, einer Handvoll tibetische Münzen aus Sterlingsilber – heute eine Rarität – und einer Schmuckspange, handtellergroß, die einen Schneelöwen darstellte.
Sie war aus einem einzigen Stück weißer Jade gearbeitet, nicht aus Jadepulver, wie es heute zumeist üblich ist. Ursprünglich diente sie als Schmuck für die winterliche Kopfbedeckung der hohen Beamten, die aus schwarzem Fuchsfell gefertigt wurde. Vater hatte diese Dinge für schlimme Zeiten aufgehoben. Lhamo und ich teilten uns die Silbermünzen, aber den Schneelöwen, hatte er bestimmt, sollte Kunsang bekommen. Lhamo war ein wenig verärgert darüber.
»Die Jugendlichen heutzutage haben doch keinen Sinn für solche 76
Dinge. Sieh dir doch nur ihren Plastikschmuck an!«
Lhamo konnte in gewissen Momenten Kleinmut zeigen, eine Regung, für die ich wenig Verständnis aufbrachte. Darüber hinaus teilte ich ihre Erbitterung nicht, denn Vaters Zuneigung hatte auf besondere Weise Kunsang gegolten. Amla schlichtete den Streit: Der Wunsch, den Tashi auf seinem Sterbebett ausgesprochen hatte, war heilig. Und sein Entschluss war durchaus weise gewesen, meinte sie.
Wie hätte er denn eine Schmuckspange unter zwei Töchter verteilen sollen? Ihr hatte Tashi seinen Ring hinterlassen; sie sollte ihn mit ihrem eigenen tragen. Er war etwas zu groß, und da Amla ihn nicht zu einem Goldschmied bringen wollte, trug sie ihn fortan an einer Kette um den Hals.
In dieser Zeit bildete ich einen jungen tibetischen Assistenten aus, der außerordentlich begabt und feinfühlig war. Ich hatte immer viel zu tun; nur dann und wann, in Augenblicken der Einsamkeit, spürte ich Unruhe wie eine ferne, dunkle Gewitterwolke, die hinter dem Horizont wuchs. Ich hatte ein feines Gespür für solche Dinge, obwohl ich Hinweise und Vorzeichen mit Bedacht von mir wies.
Schnell hatte ich Pokhara damals verlassen, war nach Europa zurückgekehrt, als ob mich dort irgendetwas erwarten würde, reich an Erfahrungen, die sich gut auswerten ließen, und von Erinnerungen verfolgt. In Stunden der Einsamkeit traten sie deutlich hervor; ich war wieder bei Atan, in diesem Bereich, der ihm und mir gehörte, unzugänglich für alle, einzigartig und wunderbar. Ich hing an diesen Erinnerungen wie an einem Faden – eine Verrücktheit, für die in meinem gegenwärtigen Leben kein Platz übrig war. Es gab nichts Aktuelles mehr in diesen Erinnerungen. Jede Frau trägt ähnliche in sich, kramt sie dann und wann hervor, betrachtet sie wie ein getrocknetes Blatt, ein melancholisches Symbol der Vergangenheit.
Der einzige Mensch, mit dem ein Austausch möglich gewesen wäre, war Kunsang. Zwischen uns hätte es tausend Gelegenheiten der Erinnerung, der Ergänzung geben können. Und gleichwohl –
nichts! Nie fand ein Dialog statt. Musste ich mir die Schuld geben?
So tüchtig ich in meiner Arbeit war, so tief war mein Privatleben in geheuchelter Zufriedenheit verborgen, ein langes Training im Selbstbetrug hatte das fertig gebracht. Oft betrachtete ich Kunsang, wenn sie – unlustig wie immer – von der Schule kam. Ich bewunderte ihre schimmernde Haut, ihren aparten Gesichtsschnitt, ihre langen, ausdrucksvollen Arme. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Zurückhaltung von so gleichförmiger Stille 77
ihrem tiefen Wesen
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