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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Felsenklöster, Reiter, Kinder beim Drachensteigen, Karawanen, Volkstänze.
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    Früher hatte sie mit unbefangener Neugierde gemalt; man spürte, dass es wunderbar für sie war, zu lernen, zu experimentieren. Ihre Seele sah schöne, heitere Farben: vibrierende Gelbtöne, ein leuchtendes Blaugrün, die ganze Rotpalette, von Violett zu Terrakotta. Die Bilder, die sie jetzt malte, waren anders. Es waren figürliche Motive, die mir recht morbide vorkamen. Ein Bild zeigte eine Frau im scharlachroten Kleid, inmitten eines Vogelschwarms, der ihr das Fleisch aus dem Gesicht pickte. Arme und Beine waren sonderbar verrenkt; ich musste an eine zerfetzte Stoffpuppe denken.
    Ein zweites Bild zeigte dieselbe Frau auf einem schwarzen Pferd; ihr Gesicht war ein weißer Fleck; nur der Mund war blutrot. Das dritte Bild stellte wieder die gleiche Figur dar, diesmal mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Ihr Pfeil zeigte auf ein Kind, das blutüberströmt am Boden lag. Die Motive waren ungeheuer dunkel, beklemmend: eine Welt voller Nacht. Ich spürte eine vage Übelkeit in mir aufsteigen. Selbst wenn ich mich zu erinnern versuchte, was diese Bilder in mir weckten, ergaben sie für mich keinen Sinn.
    »Warum malt sie solche Dinge?«
    Amla spreizte hilflos die Hände.
    »Irgendwelche Märchen, nehme ich an.«
    »Wer hat sie ihr erzählt? Pala?«
    Sie seufzte.
    »Möglicherweise.«
    Ich schüttelte verwirrt den Kopf.
    »War ich auch so, Amla? So verschlossen?«
    Sie lächelte jetzt; ein kleines, wehmütiges Lächeln.
    »Nein, du warst ein fröhliches Kind. Du hast viel geplappert, Fragen gestellt. Lhamo war die Stille in der Familie. Aber nicht so still wie Kunsang. Und jetzt malt sie diese schrecklichen Sachen…«
    Ich nickte wortlos. Die Bilder kamen mir entsetzlich gewalttätig vor. Kunsangs Sinn für Farben und Proportionen war bemerkenswert, aber jedes Motiv war Ausdruck einer Qual. Visuelle Hyperaktivität, ging mir durch den Sinn. Ihr fehlte offenbar das, was man »gesunden Menschenverstand« nennt.
    Ich schluckte und fragte:
    »Was sonst?«
    Amla sah mich stirnrunzelnd an; sie verstand nicht, was ich meinte.
    »Was macht sie sonst noch?«, fragte ich genauer.
    »Sonst noch? Ich glaube, sie schreibt.«
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    »Was denn? Ein Tagebuch?«
    Sie sah meinen neugierigen Blick und deutete auf eine altmodische Frisierkommode mit einem matten Spiegel, die früher ihr gehört hatte. Sie war, so viel ich mich erinnerte, aus einem Trödlerladen. Da sie hübsch war, hatten wir sie behalten, auch als wir uns später neue Möbel leisten konnten.
    »Sie versteckt das Heft. Da… hinter dem Spiegel.«
    Neugierig trat ich näher, schob meine Hand zwischen Spiegel und Wand. Der Spiegel war schwenkbar; ein Schülerheft, grün eingebunden, rutschte hervor. Mein Gaumen wurde plötzlich trocken. Ich zögerte, doch nicht länger als ein oder zwei Atemzüge.
    Dann wandte ich mich ab, mit dem belastenden Gefühl, einen unerlaubten Blick in das Herz einer Fremden zu werfen. Mir war absolut klar, dass eine Halbwüchsige ein ebenso starkes wie innerliches Recht auf ihre Gedanken und Gefühle hatte wie ich.
    Doch ich war Ärztin und gewohnt, vor der privaten Sphäre meiner Patienten keinen Halt zu machen. Ich wich Amlas vorwurfsvollem Blick aus, zog das Heft aus dem Versteck und blätterte darin. Die Seiten waren mit Kunsangs runder, kindlicher Schrift beschrieben. Ich überflog die ersten Zeilen. Die Hitze stieg mir ins Gesicht. Ich klappte das Heft zu, als hätte ich mir die Finger verbrannt.
    »Was schreibt sie denn?«, fragte Amla, jetzt ihrerseits beunruhigt.
    Ich holte tief Luft.
    »Es tut mir Leid, Amla. Kannst du mich für eine kleine Weile allein lassen? Ich… ich muss das hier mal lesen.«
    Amla strich nervös ihre Seidenschütze glatt. An europäische Kleidung hatte sie sich nie gewöhnen können.
    »Sie kommt bald aus der Schule zurück.«
    Ich warf einen Blick zum Fenster, das nur angelehnt war.
    Kunsang fuhr mit dem Fahrrad. Sie musste das Gartentor öffnen, und das Knirschen der Räder auf dem Boden konnte mir nicht entgehen.
    »Ich werde sie schon hören.«
    »Gut, wie du meinst.«
    Amla missbilligte mein Vorhaben, ich las es auf ihrem Gesicht.
    Andererseits war ich stets die Tochter gewesen, die alles gut und richtig machte. So ließ sie mich gewähren und verließ das Zimmer, wobei sie leise die Tür hinter sich schloss. Ich zog einen Stuhl hervor und setzte mich so, dass ich aus dem Fenster blicken konnte.
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    Kunsang hatte eine akkurate Schrift,

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