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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Erstaunliche war, dass er sang. Es hörte sich an, als ob das Lied aus seiner Erinnerung stieg wie aus der gekräuselten Oberfläche eines Sees. Dabei verbrauchte er schnell seinen Atem, so dass er immer wieder nach Luft schöpfen musste.
    Aber er begann stets aufs neue mit der gleichen intensiven Anstrengung, bis es allmählich auf ganz besondere Weise machtvoll klang.
    »Es ist das erste Mal, dass ich Pala singen höre«, sagte ich verblüfft zu meiner Mutter.
    Sie lächelte fast schmerzhaft.
    »Als junger Mann hat er viel gesungen. Er liebte Musik; du ahnst nicht, wie fröhlich er war! Jede Melodie behielt er im Kopf. Doch das ist lange her. Seit wir Tibet verlassen mussten und Chodonla verloren ging, hat er nie wieder gesungen. Er hatte…«
    Sie stockte. Wir hielten den Atem an, denn plötzlich erklang, neben der brüchigen Stimme des alten Mannes, eine unbekannte, kräftige junge Stimme. Mühelos, rein und klar sang Kunsang das eben gehörte Lied. Ein Schauer lief mir über den Rücken, bis in die Kniekehlen.
    »Kunsang! Ja… sie hat schon in Nepal gerne gesungen. Aber nie, wenn ich dabei war…«
    »Er bringt ihr jeden Tag neue Lieder bei«, flüsterte Amla.
    »Manchmal stundenlang, ich weiß nicht, wie Tashi das aushält…«
    »Er sieht glücklich dabei aus.«
    Sie schluckte verwirrt.
    »Ich… ich bin mir nie ganz sicher, ob ich zuhören kann oder nicht. Ihm würde es gewiss nichts ausmachen. Aber Kunsang würde es nicht schätzen, denke ich. Sie ist sehr eigenwillig in diesen Dingen.«
    »Sie soll sich nicht so anstellen!«
    Amla zog die Mundwinkel nach unten.
    »Das sagst du. Aber wenn sie in ihrem Zimmer ist, singt sie nie.
    Ich höre auch kein Geräusch, so dass ich nicht einmal weiß, ob sie da ist oder nicht. Ich habe keine Ahnung, was sie macht.
    Schulaufgaben? Doch nicht stundenlang! Und plötzlich erscheint sie, ohne dass ich sie kommen höre. Offen gesagt, das geht mir auf die Nerven.«
    69
    Und genau auf diese Weise trat Kunsang jetzt zu uns. Ich hatte sie seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen; wahrscheinlich lag es an der Jahreszeit, dass sie ein gutes Stück gewachsen war. Sie war langbeinig und fast so groß wie ich. Ihr ebenmäßiges Gesicht war unfreundlich, ihr Blick glänzte scharf unter den Stirnfransen. Sie machte mir trotz ihres Hangs zur Magersucht einen recht gesunden Eindruck. Sie war zugleich lebhaft und verschlossen, etwas, das nicht zusammenpasste. Das machte sie nicht unbedingt sympathisch.
    Doch zeigte sie ihr seltenes Lächeln, war es, als ob die Sonne leuchtete.
    »Großvater ist müde und will schlafen«, erklärte sie. »Er sagt, er braucht kein Essen.«
    Amla sah Kunsang vorwurfsvoll an.
    »Das Singen strengt ihn doch an! Warum bringst du ihn immer wieder dazu?«
    Sie warf herausfordernd das Haar aus der Stirn.
    »Er singt, weil er Lust dazu hat. Früher hat er viel gesungen.«
    Amla seufzte.
    »Früher war er noch gesund und kräftig.«
    Sie machte sich daran, Pala ins Bett zu bringen. Da es ihm Mühe bereitete, Treppen zu steigen, hatte man ihm das kleine Zimmer im Erdgeschoss gegeben, das einst Tenzin gehört hatte. Während meine Mutter sich um Pala kümmerte, ging ich in die Küche und kochte eine leichte Brühe mit einem geschlagenen Ei, von der ich wusste, dass er sie nehmen würde. Kunsang hatte sich schweigend in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie vermied es augenfällig, mit mir allein zu sein. Das kränkte mich mehr, als ich es wahrhaben wollte. Als die Brühe fertig war, füllte ich eine Schale für Pala. Ich klopfte, aus Höflichkeit, bevor ich leise das Zimmer betrat. Pala wusste sofort, dass ich es war, hob den Kopf aus seinen Kissen; sein Lächeln rührte mich, es wurde von einem ernsten Stirnrunzeln begleitet, das seine Würde noch hervorhob. Ich half ihm, sich aufzurichten. Pala trank nur einige Schlucke, jedoch mit einem gewissen Behagen. Da die Brühe bald kalt wurde, stellte ich die Schale weg. Ich zog einen Stuhl neben das Bett und setzte mich.
    »Ich habe dich singen gehört, Pala. Du singst gut!«
    Er betrachtete mich aus verschwommenen Augen.
    »Ja, ja, ich singe gerne! Als junger Mann hatte ich eine schöne Stimme, hast du das nicht gewusst? Jetzt krächze ich wie eine Elster.
    Das kommt, weil ich keine Zähne mehr im Mund habe, bloß 70
    deswegen.«
    Er versuchte zu lachen. Sein Lachen erstickte in einem Hustenanfall. Ich zog seine Decken glatt.
    »Du sollst dich nicht anstrengen, Pala.«
    »Nein, es macht mir keine Mühe. So alt ich auch bin, die

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