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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sich in dieser Sprache mit Kunsang, und sie schien ihn zu verstehen. Er redete von Leuten, die seit sechzig oder siebzig Jahren tot waren. Er beschrieb erstaunliche Dinge, die er als Kind gesehen hatte: das Neujahrsfest in Lhasa, das große Pfauenzelt des Dalai Lama, das fünf Meter hoch war, mit gelbem Satin gefüttert, und eine Fläche von dreißig Quadratmetern bedeckte. Er erzählte vom Drachensteigen im achten Monat nach der Regenzeit, wenn Kinder und auch zahlreiche Erwachsene auf die flachen Dächer stiegen, um die farbenprächtigen Drachen fliegen zu lassen. Die langen Zwirnfäden waren mit zu Pulver gestampften Glassplittern beklebt. Es galt, mit der eigenen Schnur die des Gegners zu kreuzen und zu durchschneiden. Sobald das bewältigt war, schwebte der Drache langsam nieder; die Kinder, denen das Kunststück gelungen war, brachen in Freudenschreie aus, denn nun gehörte der Drachen ihnen. Wer seinen Drachen am längsten in der Luft halten konnte, hatte gewonnen. Pala lachte dabei, kopfschüttelnd und staunend. Wie konnte er diese Ereignisse jahrzehntelang vergessen haben? Und wie war es möglich, dass er die Erinnerungen jetzt so leuchtend und deutlich vor sich sah? Er sprach von der Wallfahrt zum La Kang, dem »Haus der Schlangen«, einem Tempel in der Mitte eines Sees hinter dem Potala. Jedes Jahr am fünfzehnten Tag des vierten Monats (dem Geburtstag Buddhas) fuhren Boote, aus Weiden geflochten und mit Yakhäuten bespannt, auf dem See. Unzählige Menschen in Festkleidern ruderten singend und tanzend um die Insel.
    »Wie konnten sie tanzen, ohne dass die Boote kenterten?«, wollte Kunsang wissen.
    Pala erklärte ihr, wortreich und geduldig, wie flache Planken über die Boote gelegt wurden und das Stampfen der Füße auf dem Holz 67
    weithin zu hören war.
    »Wir sahen den jungen Dalai Lama am Fenster stehen, wie er durch ein Fernrohr auf das Fest blickte. Seine Heiligkeit hatte die größte Freude an solchen Anlässen. Ich glaube, er bedauerte sehr, dass er nicht daran teilnehmen konnte!«
    Als kleiner Junge hatte mein Vater noch Langchentala gesehen, einen Elefanten, den der König von Nepal dem Dalai Lama geschenkt hatte. Jeden Tag trank er aus einem Brunnen auf dem Gelände des Potala, und das Bimmeln seiner Glocke zog Scharen von ehrfürchtig staunenden Zuschauern an. Pala sagte, er brauchte sich nur ein bisschen zu besinnen, und schon spürte er den Geruch nach Holzkohlenfeuer und Dung, der damals die Straßen Lhasas erfüllte. Er entsann sich noch genau eines Gebetswunsches, den er am Mönlam-Fest auf einen Zettel geschrieben und unter die Mönche geworfen hatte. Solche Zettel wurden weitergereicht, bis sie in die Hände der Hohen Lama gelangten, die stufenweise geordnet saßen.
    Schließlich las einer von ihnen Tashis Wunsch auf dem Zettel und lachte laut, bevor er – immer noch schmunzelnd – das erforderliche Gebet sprach. Kunsang sah Pala voller Spannung an. Was er sich denn gewünscht habe? Pala kicherte, versunken in der Erinnerung.
    Nun, einen kleinen Hund hatte er sich gewünscht!
    »Der Lama muss den Wunsch an meine Mutter weitergegeben haben«, erzählte der alte Mann. »Denn ein paar Tage später, als ich über meinen Schulaufgaben saß, ging die Tür auf, und meine Mutter stand auf der Schwelle. Sie bückte sich und ließ eine zottige, aprikosenfarbene Kugel aus ihren Armen gleiten. Schnüffelnd und wedelnd trottete die Kugel auf mich zu. Dieser kleine Hund – der bald ein sehr großer wurde – entwickelte sich zu einer ausgeprägten Persönlichkeit. Er jagte allen anderen Hunden Respekt ein und war jahrelang mein treuer Freund.«
    Manchmal schien Pala zu schlafen. Nicht etwa, weil er ruhebedürftig war, sondern weil er tiefer in seine Erinnerungen eintauchte. Formen und Farben und Ereignisse weit zurückliegender Zeiten hatten sich wie Sedimente in sein Gedächtnis eingeprägt.
    Und – wie ich schon sagte – fast ständig saß Kunsang bei ihm.
    Einmal, als ich die Eltern besuchte, empfing mich Amla mit merkwürdigem Gesichtsausdruck. Sie legte den Finger auf die Lippen, deutete auf das kleine Wohnzimmer. Ich hob fragend die Brauen. Sie schüttelte leicht den Kopf. Durch den Spalt der offenen Tür sah ich Vater und Kunsang dicht nebeneinander sitzen. Kunsang 68
    hielt die abgezehrten Finger des alten Mannes in der Hand. Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass mein Vater mit dem kahlen Kopf und den zerbrechlichen Schultern selbst wie ein Kind aussah, wie Kunsangs kleiner Bruder. Das

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