Die Tochter der Tibeterin
entsprach. Es war eine trügerische Ruhe, voller Rätsel und neurotisch. Wie konnte ich Zugang zu ihr finden, wenn sie nicht wollte? Kunsang war eine Aufgabe, bei der ich kläglich versagte. Ich hatte sie als verstörtes Kind aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen und jetzt stand ich vor einer Unbekannten. Man sagt, verstehen heißt verzeihen. Aber ich hatte ihr nichts zu verzeihen, sie beleidigte mich nicht mit Worten oder Taten. Sie beleidigte mich ganz einfach dadurch, dass sie schwieg. Meine Nerven waren überfordert, und das war auch der Grund dafür, dass ich – in Bezug auf Kunsang – allmählich so etwas wie Hass verspürte. Aber da war noch etwas anderes, etwas Unheimliches. Ich konnte mir nichts vormachen: Da war Angst.
»Auch ich weiß nicht, woran ich mit ihr bin«, sagte Amla. »Ich weiß nicht mehr als du, Tara.«
Es ist zum Kotzen, dachte ich, sie ist zum Kotzen. Und wagte nicht, es laut auszusprechen. Meine Mutter ertrug gewisse Ausdrücke nicht.
»Ich versuche mit ihr zu reden. Beim Reden kommt immer was heraus. Aber bei ihr… nichts.«
»Tenzin kommt heute Abend«, sagte ich. »Er wird versuchen, mit ihr zu reden. Was macht sie eigentlich, wenn sie zu Hause ist?«
»Sie sitzt in ihrem Zimmer und hört Musik.«
Ich sah sie fragend an. Sie rieb sich die Augen.
»Manchmal stehe ich vor ihrer Tür und lausche.
Und dann gehe ich wieder. Ich weiß, dass sie spürt, wenn ich da bin.«
»Und wie sieht es in ihrem Zimmer aus?«
»Sie hat viele Bilder gemalt.«
Ich wurde plötzlich neugierig.
»Ach, kann ich sie mal sehen?«
Ein Schatten glitt über Amlas Gesicht.
»Sie würde es nicht gerne haben.«
»Sie hat vieles nicht gerne!«, erwiderte ich schroff.
Amla machte ein bekümmertes Gesicht und ging hinter mir die Treppe hinauf. Kunsangs Zimmer lag am Flurende. Die Tür war geschlossen. Ich zögerte kurz, drückte auf die Klinke. Ich verstand nicht sofort die Ursache der Scheu, die mich ergriff, als ich das Zimmer betrat. Auf der einen Seite war das natürlich mein schlechtes Gewissen; Kunsang war kein Kind mehr, sondern eine junge Frau.
Ich hatte kein Recht, in ihren Sachen zu kramen. Aber nun empfand 78
ich eine derartige Unruhe, dass ich mich anfänglich weigerte, sie wahrhaben zu wollen. Diese Unruhe erschien mir vollkommen absurd. Ich war eine erwachsene Frau, erfolgreich im Beruf; es war wahrhaftig nicht normal, dass ich wegen meiner minderjährigen Nichte Komplexe hatte! Aber der auf geheimnisvolle Weise beseelte Raum war eine eigene Welt, in der ich mich als Eindringling fühlte.
Mich überraschte die Ordnung in Kunsangs Zimmer. Ich wusste aus Erfahrung, wie chaotisch Schüler sein können – bei mir war es nicht anders gewesen. Diese Ordnung nahm ich als Zeichen starker Selbstkontrolle wahr; sie war beängstigend. Das Bett war gemacht, die bunte Daunendecke sorgfältig glatt gezogen. An einem Haken hing ihr alter Morgenmantel aus abgenutztem Frottee. Der kleine tibetische Teppich war einst meiner gewesen und war von guter Qualität, die Farben leuchteten. Auf dem Nachttisch stand ein schlichter Metallrahmen mit einem Foto meines Vaters. Es war vor einigen Jahren aufgenommen worden und zeigte ihn im Garten, mit einer Schaufel in der Hand. Er hätte ein Bauer sein können mit seiner zerschlissenen Hose, der verbeulten Strickjacke, der alten Schirmmütze. Bildbände über Tibet, die sie sich zum Geburtstag gewünscht hatte, standen auf dem kleinen Bücherbrett. Die meisten gaben ein romantisches, nahezu idyllisches Bild unseres geknechteten Landes wieder; offenbar wollte man Touristen anlocken. Kritische Stimmen waren selten dabei. Ich schüttelte leicht den Kopf. Na schön. Daneben stand ihr kleiner CD-Player. Ich betrachtete kurz die CDs; nur tibetische Musik, kein Hip-Hop mehr oder sonstige Songs, die sie früher gehört hatte. Einige klassische Aufnahmen waren auch dabei: Dvorak, Sibelius, Mahler.
»Hört sie diese Musik?«, fragte ich Amla.
Sie nickte.
»Ja, seit einiger Zeit. Ist das wichtig?«
»Wichtig?«, murmelte ich. »Auf alle Fälle merkwürdig.«
Wie kam Kunsang ausgerechnet auf die
Auferstehungssymphonie? Es war ein tiefgründiges, schwieriges Musikstück, viel zu schwer für eine Schülerin, die vor zwei Jahren noch von einem Lehrer als »leicht zurückgeblieben durch kulturelle Umstände« eingestuft worden war.
Ich betrachtete die Bilder, die mit Reißnägeln an der Wand befestigt waren. Sie stellten fast ausnahmslos tibetische Motive dar: Mönche,
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