Die Tochter der Tibeterin
Melodie ist noch da. Und die Worte auch.«
»Welche Worte, Pala?«
»Die alten Worte, die Worte der Lieder. Ich habe sie noch gut im Kopf. Hör zu:
Oben kreisen die Wolken
Unten wogt ein reiner Strom
Zwischen beiden schwebt der Adler
Gräser vermischen sich
Bäume tanzen …«
Ein erneuter Hustenanfall schnitt ihm das Wort ab. Ich hob seinen Oberkörper behutsam höher, damit er besser atmen konnte.
»Du musst deine Kräfte schonen.«
»Nein. Wozu? Es ist so ein wunderschönes Lied!«
Er kam wieder zu Atem, fuhr halblaut fort, die suggestiven Lautmalereien vor sich hinzumurmeln:
»Khor-ma khor, gya-ma-gyu, lang-ma-ling…«
»Hast du Kunsang dieses Lied beigebracht?«
»Ja, und viele andere, an die ich mich erinnere. Das sind alte Lieder, heute kennt sie keiner mehr. Das ist es, was nicht in Ordnung ist. Die Leute vergessen. Ich vergesse nie. Der Reiter auch nicht. Der hat noch alles im Kopf, wie ich. Du bist ihm doch begegnet, nicht wahr? Er hat dir gewiss viele Dinge erzählt. Dinge, die keiner mehr weiß…«
Ich schluckte. Er sprach von Atan. Nach meiner Rückkehr aus Nepal hatte ich ihm nur das Wesentliche erzählt: dass Atan, der mich zu Chodonla geführt hatte, jener Mann war, der uns damals in Lhasa vor den Rotgardisten gerettet hatte. Pala hatte kaum Erstaunen gezeigt. Schicksal und Vorbestimmung, wie konnte er daran zweifeln? Die Welt war voller Wunder…
Jetzt atmete mein Vater stoßweise, ab und zu hüstelte er schwach. Ich legte die Hand auf seine Stirn, zählte die Sekunden zwischen den röchelnden Atemzügen. Meine Finger hoben sich dunkel von der verblassten Haut und dem weißen Haar ab. Er hatte 71
kein Fieber, seine Haut war kühl. Ich schämte mich ein wenig; eigentlich kümmerte ich mich wenig um Pala. Es war Amla, die für ihn kochte, seine Wäsche wusch, ihm den Nachttopf brachte, seine schmerzenden Druckstellen pflegte mit einer Salbe, die ich lediglich verschrieb. Palas Lider flatterten, seine Hände zuckten. Ich dachte, er sei eingeschlafen, doch nach einer Weile begann er wieder zu reden.
»Wenn ich an ihn denke, an den Reiter, sehe ich ihn umgeben von unzähligen Lebenden, die gemeinsam mit ihm existieren. Nicht nur die Toten, auch die Lebenden scharen sich um ihn. Ich suche ihn mir immer wieder vor Augen zu rufen. Aber jetzt bin ich sehr schwach und schaffe es nicht oft, obwohl er tief in meiner Seele wohnt.«
Ich drückte seine Hand.
»Ich weiß, Pala. Ich bin ihm ja begegnet. Er hat mir geholfen, Kunsang nach Nepal zu bringen.«
»Kunsang?«
Wieder schüttelte der trockene Husten seine Brust.
»Chodonla ist vor Angst fast verrückt geworden. Jetzt ist alles gut. Sie haucht sanft auf mein Gesicht, auf die Lippen, auf die Augen. Sie sagt: ›Wie schön, Pala, dass Kunsang bei dir die Lieder von früher lernt! ‹«
Ich wusste nicht, ob es einen Zweck hatte, ihn aus seinen Tagträumen zu reißen.
»Pala, Chodonla ist tot.«
»Tot? Wie kann sie tot sein? Sie hat doch noch mit mir gesungen.«
Ich bewahrte Ruhe, so gut es ging.
»Pala, es war Kunsang, die hier war.«
Er nickte ungeduldig.
»Ja, ja, das weiß ich doch! Wir singen alle drei zusammen. Hast du das nicht gehört?«
Ich drückte resigniert seine Hand. Wozu widersprechen?
»Ja, gewiss, Pala.«
»Wir bringen Kunsang die alten Lieder bei. Kunsang hat ein gutes Gedächtnis, wirklich hervorragend. Ich dachte lange Zeit, ich werde hier verfaulen wie ein Weißkohl im Garten. Natürlich kannst du meine Lage nicht begreifen, Kind. Deine Mutter ist fast so alt wie ich. Es nützt ihr nichts, wenn ich ihr die Lieder beibringe. Tenzin ist ein Mönch, und Lhamo – nun, Lhamo ist ein braves Mädchen, aber singen hat sie nie gekonnt.«
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Ich verbiss mir ein Lächeln, drückte bestätigend seine Hand. Ich fühlte mich heiter und gleichzeitig beunruhigt.
»Was willst du damit sagen, Pala?«
»Kunsang… das ist etwas anderes. Der Kampf mit den Dingen in ihr, das ist allmählich ihre große Aufgabe geworden. Auf halbem Weg verlieren sich ihre Gedanken… In solchen Augenblicken erkennt sie, glaube ich, dass sie die Schule eigentlich nicht braucht…«
Ich war überrascht und zutiefst beeindruckt, dass mein Vater in seiner vagen Art Kunsang durchschaute.
»Wir machen uns Sorgen um sie«, gab ich zu, obwohl ich eigentlich nicht vorgehabt hatte, ihn mit diesen Dingen zu belasten.
»Sorgen? Ja, das kann ich wohl verstehen. Sie will nicht, dass man ihr Geheimnis kennt.«
Ich beugte mich näher über ihn.
»Von
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