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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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»Hast du jetzt verstanden?«, fragte er. Ja, diesmal schon. Pola kicherte zufrieden. »Das war ein guter Vergleich, he? Solche Dinge kannst du auch. Aber du musst auf deinen Geist gut aufpassen. Er kann dich überholen und sich auf halbem Weg verlieren.«
    Als er das sagte, war ich etwas beunruhigt. »Kommt er nicht wieder zurück?«
    »Doch, doch, hab keine Angst! Wenn er nicht mehr zurückkommt, heißt es, dass wir tot sind. Dann sucht sich der Geist einen neuen Körper, um dort zu wohnen.«
    Ich sagte zu Pola: »Ich habe auch ein Geheimnis. Es darf keiner wissen.«
    »Ein solches Geheimnis«, sagte Großvater, »musst du einem Baum anvertrauen. Knüpfe eine ›Geisterfalle‹ an einen Zweig, dann wacht der Baum über dein Geheimnis.«
    Ich dankte Pola für den guten Rat. Ich werde alle vollgeschriebenen Hefte im Garten vergraben. Da findet sie niemand.
    Heute ist ein besonderer Tag: Großvater hat mir sein Geheimnis 84
    anvertraut! Er hat eine rauchige Stimme, er keucht beim Sprechen und riecht nach Kampfer. Jeden Abend reibt ihn meine Großmutter mit Kampfer ein, weil ihn die Knochen schmerzen. Pola füttert mich mit Milchschokolade, weil er die am liebsten mag. Täglich erzählt er mir neue, erstaunliche Dinge; sie hören sich wie Märchen an, aber ich weiß, dass es keine sind. Wenn andere Leute reden, kommt mir vieles langweilig und kompliziert vor. Pola erklärt mir die schwierigsten Dinge so, dass ich sie alle verstehe. Stell dir vor, du befindest dich im Dunklen. Du hast Angst, weil du überhaupt nichts siehst. Du denkst ganz fest daran, dass du Licht brauchst – und plötzlich geht es an!«
    Da wurde ich sehr aufgeregt.
    »Ich weiß genau, was du meinst! Wenn ich die Dinge male, kommen sie.«
    »Wie machst du das?«, fragte er. Er wandte den Blick nicht von mir; sein Blick war verschwommen, aber ich wusste genau, dass solche Sachen ihn mächtig interessierten.
    »Also, ich wähle die Farben gut aus und wechsle mehrmals die Pinsel. Mit Buntstiften male ich nicht, auch nicht mit Kreide oder Tusche. Kreidestifte brechen ab, und ich mag die schwarze Tusche nicht. Wasserfarben sind viel schöner.«
    Mein Großvater teilte meine Meinung, und ich sprach weiter:
    »Früher, im Tashi-Pakhiel-Camp, da hatte ich nur alte Buntstifte.
    Und noch früher, in Lhasa, da kam ein Chinese und schenkte mir Buntstifte; der schlief mit meiner Mutter. Als meine Mutter tot war, und ich auf meinen Onkel wartete, da kam der Chinese und nahm mich mit. Er wollte, dass ich mit ihm nach China ging und versprach, dass er mir in China Wasserfarben kaufen würde. Und auch eine schöne Armbanduhr, weil meine kaputt war. Wir fuhren mit einem Jeep, das weiß ich noch ganz genau. In einem Ort, der Shigatse hieß, wohnten wir dann in einer Baracke, auf einem Baugelände. Sun Li – so hieß der Chinese – gab mir viele gute Sachen zu essen. Er brachte chinesische Bücher und Zeitschriften mit. Ich hatte sogar einen Lehrer, der mir Chinesisch beibrachte. So habe ich ziemlich gut Chinesisch gelernt. Aber dann kam mein Onkel mit meiner Tante Tara, die genau wie meine Mutter aussieht, weil sie Zwillinge sind. Sie holten mich mitten in der Nacht, und ich musste laufen, während Soldaten auf uns schossen. Da hatte ich große Angst. Mein Onkel wurde verwundet, und Tara hat ihn gepflegt. Jetzt habe ich keine Angst mehr. Aber Tara hat viel Arbeit, 85
    und mein Onkel ist in Tibet. Und eines Tages gehe ich fort von hier und suche ihn.«
    »Wenn du willst, kommt er zu dir«, hat da Großvater gesagt. Ich schrie vor Freude fast auf, aber er wirkte so feierlich ernst.
    »Das ist es ja gerade!«, rief ich. »Damals, im Tashi-Pakhiel-Camp, habe ich meinen Onkel mit Buntstiften gemalt, und bald war er da. Ich wusste, dass er kommen würde, und habe ein neues Pferd für ihn gefunden, weil sein altes gestorben war.«
    »Ich kenne deinen Onkel, er kommt auch zu mir«, sagte Großvater. Da bin ich neugierig geworden und habe ihn mit Fragen bestürmt, und schließlich hat er mir sein Geheimnis gesagt: Er malt nicht, aber er singt.
    »Kommt mein Onkel, wenn du singst?«
    »Es kann eine Weile dauern, weil ich ein schlechtes Gedächtnis habe. Die Worte müssen stimmen, verstehst du? Aber wenn mir die richtigen Worte einfallen, ja, dann kommt er.«
    Das hat mich mächtig interessiert. »Es gibt 32 heilige Lieder, die das Böse vernichten«, sagte Pola. »Und einen großen Gesang, der alle anderen enthält, und das Ende ist eigentlich der Anfang.«
    »Wie ein

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