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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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obwohl sie zahlreiche Fehler machte, viele Worte durchstrich und neue darüberschrieb. Sie suchte stets nach genaueren Begriffen, als ob ihr bei jedem Wort eine weitere Verwendung, eine zusätzliche Bedeutung einfielen; es war eine höchst organische Art zu schreiben. Mir kam der Vergleich eines Steines in den Sinn, der in ein stilles Wasser fällt und immer breitere Wellenringe aussendet. Kunsang schrieb deutsch, was ihr Vorhaben zusätzlich erschwerte. Die tibetische Schrift hatte sie zunehmend vernachlässigt. Ich hatte sie auch nicht zum tibetischen Unterricht geschickt; ich hatte bewusst eine klare Trennung von der Vergangenheit angestrebt. Kunsang war ohnehin schon verwirrt genug. Vielleicht war es ein falscher Entschluss von mir gewesen?
    Ich schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.
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8. Kapitel

    I ch habe ein neues Heft gekauft und einen Stift, denn ich muss notwendige Dinge aufschreiben, sonst vergesse ich sie. Aber ich will nicht, dass andere sie lesen. Ich habe zuerst gedacht, dass Schreiben eine leichte Sache ist. Aber das stimmt nicht. Ich weiß immer genau, was ich sagen will, aber ich muss die richtigen Worte finden, und das ist sehr schwierig. Oder doch nicht, nein, man muss sich nur in die Dinge vertiefen! Wenn ich mich in einen Baum verwandle, dann ist es genau dasselbe. Zuerst fühle ich mich ganz schwer, vor allem im Kopf. Ich sehe nicht mehr klar, die Gegenstände vor meinen Füßen werden verschwommen, aber die Dinge in der Ferne erkenne ich ganz deutlich. In meinen Ohren dröhnt und knarrt es, mir wird davon übel, aber das dauert nicht lange. Dann werden diese Geräusche schwächer, jetzt vernehme ich Dinge, die andere nicht hören. Ich bin ja ein Baum! Ich höre Wasser durch die Erde sickern und strecke Wurzeln aus, um zu trinken. Die Wurzeln graben sich durch Sand und Stein, krallen sich tief in den Boden. Mir wachsen Blüten, das tut etwas weh, als ob mir Blut aus der Haut tropfen würde; aber das geht vorbei, und bald habe ich eine feste Rinde und viele Blätter!
    Mein Großvater sagt: »Solche Dinge kann ich auch!«, und erklärt mir, was ich tun muss, damit es weniger schmerzt. Pola findet für alles einen besonderen Namen. Er sagte: »Du bist ein Baumkind.
    Dein ganz besonderer Baum ist die Buche, der Geheimnisbaum. Er ist mit dem Türkis und der Koralle verbunden.«
    »Ich liebe Türkise und Korallen«, rief ich. »Da, sieh nur meine Ringe! Tara hat sie mir zum Geburtstag geschenkt!«
    Er nickte.
    »Ja, die Steine sind gut für dich. Sie wirken gegen die Zerstörung des Körpers durch Psychosen.«
    Ich starrte ihn an, ich verstand kein Wort, doch er lächelte nur:
    »Nun, Tara wird schon Bescheid wissen.«
    Ich war sehr verwirrt und wollte nicht, dass er es merkte.
    Deswegen fragte ich ihn:
    »Und wer bist du?«
    Er antwortete: »Ich bin der Reiter«. Als ich das zum ersten Mal hörte, sagte ich: »Ich kenne einen Reiter« und flüsterte deinen Namen. Pola antwortete: »Ja, so heiße ich.« Ich konnte das zuerst nicht glauben. »Das ist überhaupt nicht wahr, du siehst ganz anders 83
    aus!« Mein Großvater sagte: »Dass ich keine Zähne mehr habe und eine Warze am Kinn, das will überhaupt nichts heißen.« Er erklärte mir, wie es möglich ist, dass der Reiter und er ein und dieselbe Person sind. Das kam mir doch sehr merkwürdig vor! So fingen wir an, miteinander zu reden. Mein Großvater sagte, das ist viel einfacher, als du glaubst, und allmählich lernte ich zu verstehen. Es genüge ihm nicht, sagt Pola, nur einmal vom Mutterleib geboren zu werden. Er kann – wenn er will – eine andere Person sein. Er zieht eine neue Kleidung an für den Körper und den Geist. Seinen alten Körper wirft er hoch in die Luft, und dann steht er, wenn er auf die Erde zurückfällt, sofort auf, wie ein Schmetterling mit verletzten Flügeln, der nicht müde wird, immer wieder aufzuflattern. Pola sagt, sein Körper sei völlig ungeeignet für das, was er sein will. »Ich muss einen anderen Körper suchen, der besser zu mir passt. Ich muss einen Umweg machen. Ich kann ein Baum werden, oder ein Tier oder ein anderer Mensch.«
    »Wie machst du das?«, wollte ich wissen. Er sagte: »Ich habe mir die Kenntnisse erworben.« Das verstand ich nicht, er redet manchmal kompliziert. Daraufhin erklärte er es mir auf eine andere Art: »Als ob die Teile eines ausgedienten Autos neu montiert werden und noch einmal in Gang kommen.« Ich musste lachen, weil ich mir Pola als abgenutztes Auto vorstellte.

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