Die Tochter der Tibeterin
Kreis?«, fragte ich. Pola war sehr erfreut.
»Ja, richtig, Mädchen, du hast was im Kopf!«
Ich fragte ihn, ob er mir diese Lieder beibringen könnte. Warum?
wollte er wissen. Ich sagte: »Weil mein Onkel kommen soll!«
Pola hat komisch mit der Zunge geschnalzt. Das sei ein eigennütziger Wunsch!
»Was ist eigennützig?«, wollte ich wissen. Da hat er es mir erklärt, aber ich war nicht einverstanden. »Aber vielleicht macht es ihm auch Freude, mich zu sehen.«
Pola hat zuerst gelacht. Dann hat er gesagt: »Ich… ich sehe ihn gut«, und daraufhin musste ich weinen. Pola hatte Mitleid mit mir.
Er sagte: »Wenn ich dir die Lieder beibringe, darfst du sie niemals vergessen, he? Versprichst du mir das?«
Ich sagte: »Ich werde sie alle gut aufschreiben.«
Damit war er einverstanden.
»Die Lieder sind in einer Sprache gehalten«, sagte Großvater,
»die man vor langer Zeit gesprochen hat. Es ist die Dakin -Sprache, die Sprache der Feen. Du musst jetzt gut zuhören, auch wenn du nicht alles verstehst. Wenn du älter bist, lebe ich nicht mehr, aber du wirst die Worte behalten.«
Es war Herbst; die Tage wurden kurz und dunkel. Großvater hielt 86
meine Hände zwischen seinen Fingern und sang für mich. Jedes Lied war einem Tiergeist oder einem Baum gewidmet. Manche Lieder bestanden nur aus wenigen Strophen, andere dagegen waren sehr lang. »Ich habe keine schöne Stimme mehr«, sagte Großvater, »tut mir Leid!« Da ich ein gutes Gedächtnis habe, lernte ich schnell.
Dabei spürte ich rund um uns eine seltsame Kraft, als ob uns die Geister mit fest verschlungenen Händen umkreisten. Ebenso fiel mir auf, dass die alten Worte vollkommen mit Dingen von heute in Zusammenhang standen. Aber es vergingen Monate, bis ich alle Lieder auswendig konnte, und in dieser Zeit war ich schlecht in der Schule. Mir war das egal, ob die Lehrerin schimpfte – die Lieder waren wichtiger. Es war bereits Frühling, als Großvater mir das letzte der 32 Lieder beibrachte – das Lied, das den Geist des Schneelöwen beschwört.
»Es ist das wichtigste Lied«, erklärte er mir. »Kennst du dieses Lied nicht, sind alle anderen nutzlos. Aber ohne die 31 anderen kann dieses Lied allein nichts bewirken.«
Nachdem ich das Lied gelernt hatte, sagte Großvater: »Und jetzt kommt der schwierigste Teil. Ein Lied musst du selbst erfinden. Ein Lied, in dem du die Geister bittest, sie mögen deinen Wunsch erfüllen.«
Ein Lied erfinden? Ein Lied, das ein Gebet war? Die Aufgabe war entsetzlich schwierig! Am Anfang saß ich stundenlang über meinem Heft, ohne dass dabei etwas herauskam. Ich wurde richtig wütend, weil mir nichts einfiel. Dann merkte ich, dass es besser ging, wenn ich die Bäume im Garten ansah, die flatternden Elstern, die Blumen und sogar das Gemüse! Eines Abends, im Mai, beobachtete ich, wie die Wolken groß und ruhig dahinschwebten. Vielleicht war eine Wolke mächtig genug, um weit über den Himmel zu segeln, weit weg, über die Alpen, das Meer, über viele andere Länder und viele andere Berge, bis nach Tibet? Ja, vielleicht konnte eine Wolke mein Gebet zu den Geistern tragen?
Und an diesem Abend starb Pola. Es wurde schon dunkel, als Mola in mein Zimmer kam, mich in die Arme nahm und sagte, Kind, dein Großvater ist tot. Ich fragte, ob ich ihn sehen könnte.
»Später«, sagte Mola, »und du darfst nicht weinen, sonst störst du ihn in seiner Meditation.«
Ich ging in sein Zimmer, als Mola ihn gewaschen und angezogen hatte. Das vertraute Zimmer war ganz anders, irgendwie leer, wie eine hohle Muschel. Keine Bewegung, kein Atem mehr, nichts.
87
Völlige Stille. Polas Gesicht war violett und fleckig, aber er hatte ein heimliches Lächeln auf den Lippen, als ob er zufrieden war. »Er ist nicht mehr da«, dachte ich, »wohin ist er gegangen?« Es konnte ja sein, dass die Wolke ihn mitgenommen hatte, und er schon auf dem Weg nach Tibet war.
Später sagte Mola zu mir, es sei gut, dass ich nicht geweint hätte.
Die Art und Weise, wie man erreicht, dass sich der Körper von der Seele löst, beeinflusst die nächste Inkarnation; der Verstorbene braucht Stille, um sich von den irdischen Dingen zu trennen. Freunde und Verwandte zündeten Weihrauch und Butterlampen an, opferten weiße Schärpen und verneigten sich vor dem Leichnam. Großvaters Wunsch war es gewesen, eingeäschert zu werden, und Onkel Tenzin vollzog die erforderlichen Riten. An jedem siebten Tag wurden spezielle Gebete gesprochen. Nach neunundvierzig Tagen hatte
Weitere Kostenlose Bücher